`
Donnerstag, März 28, 2024
More

    „Jeder sieht die Ausbeutung am eigenen Leib“ – Interview mit einem Industrie-Gerüstbauer

    Teilen

    Justus arbeitet im Industrie-Gerüstbau bei einem großen Chemie-Unternehmen im Norden Deutschlands. Wir haben mit ihm über sein Arbeitsleben und das Bewusstsein der Arbeiter gesprochen.

    Hallo Justus, als was arbeitest du in deinem Betrieb?
    Ich bin Gerüstbauhelfer, jedoch nicht beim Fassaden-Bau sondern im Industrie-Bereich. Wenn Reparaturen im Werk durchgeführt werden müssen oder neue Rohre verlegt werden, bauen wir ein Gerüst an diese Stelle, damit die Kollegen an hohe Stellen dran kommen und sicher arbeiten können. Ich gebe das Material an, Kupplungen, Beläge, Riegel und baue mit.

    Wie sieht ein normaler Arbeitstag von dir aus?
    Ich stehe um 4:30 auf, damit ich mit Bus und Bahn um 6:30 auf der Arbeit bin. Dann wird gearbeitet – oft bis zu zehn Stunden. Zu Hause bin ich selten vor 18:30. Dann bleibt noch Zeit fürs Essen, denn um 21 Uhr muss ich mich schon wieder schlafen legen. Es wird oft länger gearbeitet, dann gibt es was schwarz auf die Hand, sonst würde keiner diesen Job machen.

    Wer arbeitet in dem Betrieb und welche Arbeitsverträge gibt es?
    Angestellt bin ich bei einer Subfirma, die mich wiederum in einer Firma einsetzt, die Gerüstbau für einen großen Chemiekonzern macht. Bei uns arbeiten ausschließlich Männer und hauptsächlich Migranten, viele Bulgaren. Viele sprechen kein Deutsch. Es gibt fast ausschließlich Leiharbeit in diesem Bereich.

    86 tödliche Arbeitsunfälle gab es 2015 in der Bauwirtschaft

    Ist die Arbeit gefährlich?
    Wenn z.B. ein Gasrohr kaputt geht, dann bist du sofort tot. In einem Betrieb, in dem ich war, gab es mal nach zwei unfallfreien Wochen eine große Feier, wo die Manager angestoßen haben. Ist das nicht zynisch? Es gibt auch oft ekelhaften Chemiestaub. Manchen Kollegen wird schwindelig. Wenn man sich abends die Nase putzt, dann ist oft Blut mit dabei. Für die Festangestellten im Konzern gibt es wenigstens Krebszuschläge, für uns gibt es das nicht. Ein wichtiges Problem sind auch die Sicherheitsgurte, in denen du hängst. Wenn du abstürzt, dann zurrt sich der Gurt an den Beinen zu und die Leute haben 15 Minuten Zeit, um dich runter zu holen, bevor du tot bist, weil das Blut sich staut.

    Und die allgemeinen Arbeitsbedingungen?
    Natürlich ist die Arbeit ziemlich hart. Man muss körperlich schwer arbeiten, manchmal musst du ein Gerüst hängend und in unmenschlichen Positionen aufbauen. Das macht den Rücken kaputt. Es ist immer sehr heiß, weil die Rohre Hitze abstrahlen und wir verpflichtet sind, mit langarmigen Oberteilen, Handschuhen, Schutzbrille und Helm zu arbeiten.

    Wie sieht es mit dem Lohn aus?
    Jeder Arbeiter hat die Aufgabe, pro Stunde soviel Gerüst zu bauen, dass es der Firma mindestens 55€ einbringt, das umfasst einen bestimmten Umfang an laufenden Metern. Wir bekommen aber als Gerüstbau-Helfer nur 11€ pro Stunde. Jeder Arbeiter bei uns sieht, dass er nur einen ganz kleinen Teil für sich arbeitet und der Rest bei der Verwaltung aber vor allem beim Chef in der Tasche landet. Obwohl es einen Branchentarifvertrag gibt, werden die Bulgaren teilweise unter dem Mindestlohn bezahlt. Das weiß ich, obwohl der Chef uns sagt, dass wir nicht über den Lohn sprechen dürfen.

    Gibt es Unzufriedenheit unter den Kollegen?
    Niemand ist dort, weil ihm die Arbeit Spaß macht, sondern nur fürs Geld. Die Leute sagen, dass sie dort sind, weil sie nirgendwo anders mehr eine Chance haben.
    Es braucht mehr Bildung und Wissen unter den Arbeitern, dass es mal eine starke Arbeiterbewegung gab, dass man sich wehren kann.
    Natürlich macht der Chef oft Druck, aber kollektiven Widerstand gibt es nicht, Gewerkschaften und Betriebsrat spielen keine Rolle. Jeder will meist nur schnell nach Hause.

    Was denkst du, wie man die Vereinzelung unter den Arbeitern überwinden kann?
    Alle erkennen die Ausbeutung am eigenen Leib. Aber die Menschen sehen in sich selber keinen Wert. Sie sagen sich: „Ich hab aus meinem Leben nichts gemacht, deshalb bin ich selber schuld dran.“ Das ist die krasseste Propaganda: Dass sich die Leute selber verantwortlich machen.

    Es braucht mehr Bildung und Wissen unter den Arbeitern, dass es mal eine starke Arbeiterbewegung gab, dass man sich wehren kann.

    Wie denkst du sollte man den Gerüstbau eigentlich organisieren?
    Zum Beispiel in einer sozialistischen Gesellschaft würden wir den Gerüstbau kollektiver organisieren und über die Aufgaben sprechen. Dadurch würden die Planung und die Arbeitsabläufe verbessert werden. Die verschiedenen Abteilungen würden nicht mehr die Probleme hin und her schieben. Wir würden uns nicht mehr gegenseitig Material abziehen, um unseren Meter hinzubekommen. Das heißt, der Arbeiter würde anfangen, wirklich für sich und die Gesellschaft und nicht mehr nur fürs Geld und den Chef zu arbeiten.

    Mehr lesen

    Perspektive Online
    direkt auf dein Handy!

    Weitere News