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Donnerstag, März 28, 2024
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    Türkei: „Die Bevölkerung ist vollkommen versklavt“

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    Interview mit Alp Altinörs über die Situation der politischen Gefangenen und die politische Lage in der Türkei. Alp Altinörs ist Mitglied des Parteivortands der “HDP” (Demokratische Partei der Völker) und marxistischer Autor.

    Das Interview erschien zuerst gekürzt in der Tageszeitung “Junge Welt” und wurde von unserem Redakteur Kevin Hoffmann geführt.

    Wie zehntausende politische AktivistInnen in der Türkei wurden auch Sie verhaftet und saßen für 9 Monate in Untersuchungshaft. Was war der Grund für Ihre Festnahme? Wie ist die derzeitige Situation in Ihrem Verfahren?

    Meine Verhaftung war vollkommen politischer Natur und hatte keine legale Basis, genau wie alle anderen HDP-Verhaftungen. Ich wurde beschuldigt, an der Beerdigung für unser Parteimitglied, Zakir Karabut, teilgenommen zu haben. Er war einer der 102 Märtyrer des Ankara Friedensdemonstration-Massakers am 10. Oktober, ein Massaker, das durch den IS begangen wurde, mit Hilfe des türkischen Geheimdienstes. Seine Beerdigung in der Provinz Bitlis war riesig, eindrucksvoll und beunruhigte die Regierung. Seit ich dort eine Rede im Namen der HDP hielt, wurde ich attackiert. Ich hatte keine Möglichkeiten, die Anschuldigungen einem Richter gegenüber zu widerlegen. Meine Verhandlungen werden nach der Freilassung weiter gehen, die erste Anhörung wird am 6. November sein. Ich werde das Komplott, welches gegen unsere Partei organisiert geplant wurde, offenlegen.

    Wie ist die Situation für die politischen Gefangenen in der Türkei? Haben die Bedingungen sich nach dem Putschversuch oder dem Referendum verändert?

    In den Gefängnissen leben die politischen Gefangen unter sehr schweren Bedingungen. Grundrechte, welche durch Kämpfe der Gefangenen gewonnen wurden, werden durch Dekrete auf Grund des Ausnahmezustands angegriffen. Das ganze Land lebt im Ausnahmezustand, aber die Gefangenen spüren es am heftigsten. All diese Angriffe begannen nach dem Putschversuch, unter dem Vorwand des „Ausnahmezustands“. Die Regierung verwendete diese Menschenrechtsverletzungen erst gegen die Gefangenen des Putschversuchs und dann gegen die politischen Gefangenen.

    Wie würden Sie die allgemeine Lage in der Türkei beschreiben?

    Die Türkei hat sich gesellschaftlich in den 2000er Jahren sehr entwickelt. Unser Land hat zum ersten Mal in den Jahren 2013 – 2015 die Kurdenfrage in einem Dialog  behandelt. Eine Partei, welche von der Basis kommt, die eine Koalition bildet aus den unterdrückten Teilen der Gesellschaft, überwand zum ersten Mal die 10%-Wahlhürde, die die Militärregierung 1982 einführte. Auch zum ersten Mal wurde ein Staatsstreich durch gesellschaftlichen Widerstand besiegt. Aber die führende AKP sah, dass diese gesellschaftlichen Errungenschaften zu einem Umsturz der Regierung führen würde, sie brachen mit dem Friedensprozess und leiteten den Krieg gegen die KurdInnen wieder ein. Das war der Beginn des bürgerlichen Putschs durch Erdogans Palast. Der Krieg erleichterte die Bedingungen für die Putschisten in der Armee und sie versuchten einen faschistischen Putsch am 15. Juli 2016.

    Erdogans Regierung erhielt Informationen über die Putsch-Vorbereitungen und sie machte Allianzen mit verschieden Teilen der Putschisten. Erdogan-Anhänger akzeptierten das politische Programm des Putsches und die Putschisten akzeptierten, dass diese an der Macht bleiben würden. Das Zusammenbrechen der Koalition des Putsches endete in seinem Versagen und die vorbereitete Regierung wartete auf die verbliebenen Militärputschisten, um ihren Putsch zu verhindern. Sie nutzten die Gelegenheit und säuberten zehntausende Angestellte mit den Dekreten des Ausnahmezustands aus dem Staatsdienst und verhafteten über 60.000 Menschen. Der Putsch wurde vernichtet, aber das Programm wurde seitdem von Erdogan übernommen. Hunderte Vereinigungen wurden verboten, zehntausende wurden verhaftet, der Krieg eskalierte im Osten, alles um ein oligarchisches Regime aufzubauen. Niemand fühlt sich zurzeit sicher. Jeder hat Angst. Alle rechtlichen Garantien wurden aufgehoben. Der Ausnahmezustand untergräbt alle demokratischen Rechte. Der Staat ist vollkommen frei und die Bevölkerung ist vollkommen versklavt.

    Heute leben wir in einem Land, das reif ist für eine Demokratie von unten nach oben. Die Autorität verteilt sich überall hin, durch ein „Assamblea-Prinzip“ verwurzelt, von lokalen Volksversammlungen bis hin zu Nationalversammlungen. Doch in unserem Land wird alle Macht – Judikative, Exekutive, Legislative – in der Hand einer Person und seinem Palast konzentriert. Diese Oligarchie ist in tiefem Widerspruch mit der gesellschaftlichen Existenz unserer Völker, so wird es nie in der Lage sein, sich zu normalisieren und zu legitimieren. Die Türkei ist ein Land, welches die Wehen einer populären Demokratie lebt. Das hat man offen in den Ergebnissen des Referendums am 16. April gesehen, in welchem eigentlich das „Nein“ gewonnen hat, aber der Wille der Bevölkerung wurde durch die Regierung gestohlen, indem sie den Hohen Rat benutzt haben.

    Bevor Sie verhaftet wurden, waren Sie der Co-Vorsitzende der HDP. Tausende Ihrer MitgliederInnen und AktivistInnen sind immer noch im Gefängnis. Wie ist die Situation Ihrer Partei im Moment?

    Unsere Partei ist verletzt, aber immer noch auf den Beinen. Sie hat bewiesen, dass sie sich permanent in der politischen Landschaft unseres Landes etablieren kann. Die HDP ist eine Koalition von verschiedenen unterdrückten Teilen der Gesellschaft. Die Welle der Repression gegen unsere Partei war der Versuch einer gezielten Teilung dieser Koalition, aber wir sind einheitlicher als zuvor. Der Ruf unserer Co-Präsidenten Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag wurde von Millionen unserer Wähler am 16. April beantwortet, und das hat bewiesen, dass Mauern unsere Co-Präsidenten nicht von der Bevölkerung isolieren können. Wenn sie draußen gewesen wären, wären die Ergebnisse sicherlich anders gewesen, mehr zu Gunsten eines „Nein“. Unser Kampf für Gerechtigkeit geht weiter, wir werden alle unsere gefangenen Genossen befreien, holen unsere gestohlenen Gemeinden zurück und erobern die Demokratie.

    Wie bewerten Sie den gerade stattfindenden „Gerechtigkeitsmarsch“ der nationalistisch-kemalistischen CHP?

    Es ist ein positiver Schritt. Wir interpretieren diesen Marsch als eine Selbstkritik der CHP, weil sie genauso verantwortlich für die Gefangennahme der Parlamentsabgeordneten ist (dazugehörend ihr eigener Abgeordneter, Enis Berberoglu). Sie stimmten für eine Straffreiheit für die Abgeordneten am 20. Mai, obwohl sie diese Maßnahme als im „Widerspruch zur Verfassung“ definierten. Zu dieser Zeit dachten sie, es würde nur unsere Partei kriminalisieren, wohingegen nach der HDP jetzt sie diejenigen sind, welche kriminalisiert werden. Nach dem betrügerischen Referendum war es wieder die CHP, welche den Menschen auf der Straße sagte, sie sollten zurück nach Hause gehen. Jedenfalls ist es viel besser für sie, dass sie nicht auf ihre Vernichtung warten, sondern sich für die Straße und den Gerechtigkeitsmarsch entschieden haben. Wir unterstützen ihr Vorgehen.

    Was sind die nächsten Schritte für die antifaschistische und sozialistische Bewegung in der Türkei und Nordkurdistan?

    Wir müssen den gesellschaftlichen Widerstand in einer breiten demokratischen Front verbinden. Durch die Welle des Protests, welche durch das 16. April-Referendum von unten nach oben anfing zu wachsen, zeigte das historische „Nein“ unserer Völker den Pfad der Einigung und des gemeinsamen Kampfes für alle unterdrückten Teile der Gesellschaft. Jetzt ist das Präsidial-Regime legal, wohingegen es keine gesellschaftliche Legitimation besitzt. Wir sollten alle demokratischen Kräfte vereinen für eine demokratische Republik.

    Was können Menschen aus Europa und Deutschland tun, um die demokratische und sozialistische Bewegung in der Türkei zu unterstützen?

    Die internationale Solidarität ist natürlich unverzichtbar. Während der Zeit im Gefängnis haben mich die Nachrichten von Solidaritätsaktionen aus verschieden Ländern am glücklichsten gemacht. Diese Aktionen zeigten, dass unsere Kämpfe keine Grenzen kennen, und dass wir für allgemeine Ideale kämpfen. Aber genauso möchte ich diskutieren, dass wir etwas weitergehen als nur uns gegenseitig zu „unterstützen“. Seit dem globalen Kapitalismus ist das Leben in einer existenziellen Krise, und globaler Faschismus und populistische Reaktionen wachsen aus dieser Krise. Wir sollten uns in einer antifaschistischen Front vereinen und den gemeinsamen Kampf der Menschen in Europa und auf der Welt erhöhen. Wir sollten die Grenzen der Solidarität erweitern und ein Level des vereinten internationalistischen Kampfes für unsere gemeinsamen Ziele erreichen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit meine Dankbarkeit an all die deutschen GenossInnen ausrichten, welche ihre Solidarität mit unserer Partei und den demokratischen Kräften zeigen. Wie Che einst sagte: Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.

    • Autor bei Perspektive seit 2017 und Teil der Print-Redaktion. Freier Autor u.a. bei „Junge Welt“ und „Neues Deutschland“

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