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Samstag, April 20, 2024
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    “Morgen kann es für sie schon zu spät sein”

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    Über den Hungerstreik der türkischen Akademiker Nuriye Gülmen und Semih Özakca und die Solidaritätsaktionen in Deutschland. – Ein Gespräch mit Onur Güler

    Onur Güler ist sozialistischer Aktivist und Ko-Vorsitzender der “Föderation der Arbeitsimmigranten in Deutschland e.V.” (AGIF) aus Duisburg. Das Interview erschien zuerst in der Tageszeitung Junge Welt und wurde von unserem Redakteur Kevin Hoffmann geführt.

    Seit etwa zwei Wochen befinden Sie sich in Duisburg im Hungerstreik, um die Wissenschaftlerin Nuriye Gülmen und den Lehrer Semih Özakca, die in der Türkei gefangen sind, zu unterstützen. Wer sind die beiden?

    Insbesondere nach dem Putschversuch am 15.07.2016 wurden von Seiten der Erdogan-Regierung und unter dem Deckmantel des „Kampfes gegen den Putsch“ viele Oppositionelle in Gewahrsam genommen. Hunderttausenden Staatsbediensteten, Demokraten und Revolutionären wurde ohne Angabe von Gründen gekündigt. Zwei von Ihnen sind die Wissenschaftlerin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakca. Des weiteren wurden die zwei deutschen JournalistInnen Deniz Yücel und Mesale Tolu wie unzählige ihrer türkischen Kollegen verhaftet. Gegen alles Fortschrittliche und Demokratische hat die Erdogan-Regierung einen Krieg begonnen. Nuriye und Semih sind nur ein Beispiel unter Vielen. Dagegen ist Nuriye auf die Straße gegangen – mit einem Plakat und der Aufschrift „Ich möchte meine Arbeit zurück“ . Darauf schloss sich Semih an mit der Forderung „Ich möchte meine Schüler zurück“.  Ihr Kampf um ihre Arbeitsplätze dauert nun bereits mehr als 250 Tage. Jeden Tag protestierten die beiden auf der Yüksel-Straße in Ankara. Jeden Tag griff die Polizei sie mit Gewalt an und verhaftete sie. Schließlich begannen sie einen unbefristeten Hungerstreik und wurden am 75. Tag ihres Hungerstreiks dauerhaft inhaftiert und befinden sich seit Ende Mai im Gefängnis.

    Gibt es aktuelle Nachrichten aus dem Gefängnis? Wie geht es beiden Akademikern jetzt?

    Nuriye und Semih sind nun seit mehr als 130 Tagen im Hungerstreik und sind somit natürlich sehr geschwächt. Es ist kaum möglich sich länger mit ihnen zu unterhalten, sie können sich nicht konzentrieren und kaum sprechen. Es ist sehr mühsam für sie, längere Zeit zu sitzen. Nuriye wiegt mittlerweile weniger als 35 Kilogramm. Da ihre Knochen soweit aus ihrem Körper herausstehen, kann sie kaum liegen. Ihr Antrag auf ein spezielles Bett wurde abgelehnt. Nachts überprüfen die Gefängniswärter regelmäßig, ob die beiden noch leben. Kurzgefasst sind sie in einer sehr schlechten gesundheitlichen Verfassung. Es ist deshalb jetzt dringend notwendig, in Aktion zu treten, denn morgen kann es für das Leben der Beiden vielleicht schon zu spät sein. Jeden Tag versuchen Menschen, weiterhin für die Beiden und ihre Arbeitsstellen auf der Yüksel-Straße zu demonstrieren. Jeden Tag schlägt die Polizei diesen Protest mit Gewalt nieder.

    Seit zehn Tagen sind auch Sie nun im Hungerstreik. Was wollen sie mit Ihrem Protest erreichen?

    Ausschlaggebend waren zwei Faktoren für mich. Der erste Grund war die Situation von Nuriye und Semih, sowie die allgemeine Situation in der Türkei und Kurdistan. Der zweite Grund ist die Polizeigewalt, die wir in Hamburg gegen die Anti-G20-Proteste gesehen haben. Auch ein Freund von mir, Dirk P., sitzt nach wie vor in Hamburg in Untersuchungshaft. Das Handeln der Polizei in Hamburg erinnerte mich sehr an die Polizei in der Türkei. Aus diesen zwei Gründen mache ich diesen Solidaritätshungerstreik für 12 Tage. Ich will mehr Menschen damit erreichen. Seit meinem Hungerstreik haben alleine in den Sozialen Medien über 3 Millionen Menschen die Fotos und Videos meiner Aktion gesehen.

    Wie reagieren die Passanten auf Ihre Proteste? Was für weitere Aktionen sind geplant?

    Viele Passanten sprechen mich an und viele sprechen ihr Mitgefühl und ihre Solidarität aus. Oft werde ich auch gefragt, wie jeder Einzelne helfen kann. Des weiteren wurden nun auch in anderen Städten Proteste organisiert. In Mannheim, Nürnberg, Aachen, Leverkusen und Köln wurden symbolische Hungerstreiks organisiert und es werden für das kommende Wochenende öffentliche Protestaktionen geplant. Selbst in England gab es einen 3-tägigen Hungerstreik. Der Hungerstreik ist nur ein Teil von vielen Möglichkeiten des Protests.

    Der Protest von Nuriye und Semih wird solange weiter gehen, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Und auch wir wollen in Deutschland solange weiter kämpfen, bis sie ihren Hungerstreik erfolgreich beendet haben. Wir werden sie nicht alleine lassen, sondern ihren Forderungen eine Stimme verleihen.

    • Autor bei Perspektive seit 2017 und Teil der Print-Redaktion. Freier Autor u.a. bei „Junge Welt“ und „Neues Deutschland“

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