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Donnerstag, April 18, 2024
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    Syrien: Es geht um viel mehr als einen Stellvertreterkrieg – von Kevin Hoffmann

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    Er ist einer der blutigsten und verworrensten Kriege der vergangenen Jahrzehnte. Die Fronten in Syrien sind schwer durchschaubar, sie wechseln häufig. Dutzende Staaten sind im Syrien-Krieg beteiligt, hunderte bewaffneter Gruppen bekämpfen sich gegenseitig.

    Bis zu einer halben Millionen Menschen sollen seit Beginn der Kämpfe 2011 getötet worden sein, fast zwölf Millionen Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben.

    Immer wieder hört man in den bürgerlichen, aber auch in “linken” Medien davon, dass in Syrien lediglich ein Stellvertreterkrieg ausgefochten werde. Es soll v.a. der Kampf zwischen Russland und den USA und den von ihnen abhängigen Verbündeten sein, der auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung ausgetragen werde. Das ist sicher nicht falsch und doch zu kurz gegriffen.

    Zunächst muss man sagen: Ja, es stimmt, Russland und die USA sind wichtige und wesentliche Akteure in diesem Krieg. Und ja, es stimmt, um sie herum sammeln sich verschiedene von ihnen abhängige, bzw. mit ihnen eng verbündete, strategische Partner. Aber die Akteure in Syrien gehen weit darüber hinaus und sie handeln durchaus in ihrem eigenen Interesse, auch wenn sie sich an eine größere „Schutzmacht“ anlehnen.

    Die Eigeninteressen der Türkei, von Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten werden zum Beispiel kaum beleuchtet, obwohl ihre direkte finanzielle, politische und logistische Unterstützung für islamistische Terrorgruppen heute außer Frage steht. Auch die Interessen des Iran werden oftmals zu schnell mit denen Russlands über einen Kamm geschoren.

    Noch weniger differenziert und nachgeordneter geht die Berichterstattung mit dem selbstbestimmten Befreiungskampf arabischer, kurdischer, assyrischer und jesidischer Menschen und ihren politischen und militärischen Organisationen um. Durch die Reduzierung der bewaffneten Auseinandersetzungen auf einen Stellvertreterkrieg zwischen zwei imperialistischen Großmächten wird deren fortschrittlicher Kampf um Freiheit und Demokratie zur Randnotiz, und auch die demokratische Revolution von Rojava wird in ihrem Stellenwert verkannt. Ebenso all die revolutionären und kommunistischen Kräfte, die sich unter anderem im “Internationalen Freiheitsbataillon” (IFB) vereinigt haben, werden so zu nachrangigen “Helfershelfern”.

    Dabei wird nicht erfasst, dass der mutige Widerstand und Kampf der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG und ihrer Fraueneinheiten YPJ und all der mit ihnen verbundenen revolutionären FreiheitskämpferInnen eine realistische und hoffnungsvolle Perspektive für ein friedliches Zusammenleben der Völker, Ehtnien und Religionen im Mittleren Osten eröffnet. Gerade deshalb wird das demokratische Projekt dieser „Demokratischen Föderation Nordsyriens“ – auch Rojava genannt – von den RevolutionärInnen und KommunistInnen überall auf der Welt unterstützt – und von den reaktionären, faschistischen Kräften bis auf den Tod bekämpft.

    Die Bündnisse kämpfender Einheiten im Syrien-Krieg sind heute für den Moment geschmiedet, sie können schon morgen wieder vergehen oder gar zerschlagen werden. Auch die RevolutionärInnen in Rojava sind davon natürlich nicht ausgenommen. Seit dem Beginn ihrer demokratischen Revolution in Rojava am 19. Juli 2012 sind die dortigen politischen und militärischen Strukturen z.B. eine ganze Reihe von strategisch-taktischen Bündnissen eingegangen, ohne aber bislang ihre Interessen oder Standpunkte verraten zu haben. Diese Bündnisse halten solange, wie beide Seiten davon profitieren können.

    Eine Verurteilung solch taktischer Bündnisse, gerade aus einer “linken” Perspektive – ohne eine konkrete Analyse der Situation und Kräfteverhältnisse vor Ort, allein aufgrund ihrer Existenz – erscheint insofern wie eine bornierte Kampagne gegen die demokratische Revolution in Rojava.

    Die Aufgabe aller demokratisch, fortschrittlich und sozialistisch denkenden Menschen ist im Gegenteil die Unterstützung dieses Projekts, das wieder Hoffnung auf eine friedliche Zukunft und Koexistenz im Mittleren Osten geschaffen hat. Denn nur wer Teil eines Kampfes ist, kann diesen kritisch weiterentwickeln und positiv beeinflussen.

    • Autor bei Perspektive seit 2017 und Teil der Print-Redaktion. Freier Autor u.a. bei „Junge Welt“ und „Neues Deutschland“

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