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Donnerstag, März 28, 2024
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    „Chinesischer Traum“ – kapitalistischer Alptraum?

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    Die Volksrepublik China wird 68. Ein antikapitalistischer Überblick von Pa Shan

    Am 1. Oktober begingen hunderte Millionen von ChinesInnen das 68. Gründungsjubiläum der Volksrepublik China. Mit den nationalen Feierlichkeiten gedenken sie der MärtyrerInnen im Kampf für ein unabhängiges, starkes und antikapitalistisches China. In der Tat ist China heute ein unabhängiges und starkes Land, jedoch weit davon entfernt, antikapitalistisch zu sein. Der „Traum von einem schönen China“ ist nur zum Teil wahr geworden. Im Gegenteil gleicht es in vielerlei Hinsicht vielmehr einem kapitalistischen Alptraum.

    Klassenkampf und Ungleichheit

    China ist eines der ungleichsten Länder weltweit. Der Gini-Koeffizient, ein Maß zur Ermittlung der Ungleichverteilung von Wohlstand, liegt heute mit etwa 0,46 ungefähr auf dem Niveau der USA (0,48). Während über einhundert der reichsten Menschen der Welt ChinesInnen sind und China das Privateigentum von über einer Million einheimischen Dollar-Millionären verteidigt, lebt der Großteil der Bevölkerung unter sehr bescheidenen Umständen. Etwa 300 Millionen WanderarbeiterInnen verdingen sich unter unwürdigen Umständen in den Fabriken, Werken, Häfen und Baustellen. Viele können trotz täglicher Plackerei kaum von ihrer Arbeit leben. Häufig zerstört die ausbeuterische Arbeit ihre Gesundheit.

    Millionen der scheinselbständigen TaxifahrerInnen, VerkäuferInnen, HandwerkerInnen und sonstigen ProduzentInnen und Dienstleistenden arbeiten buchstäblich täglich für ihr Überleben. Eine effiziente und menschenwürdige Kranken- und Arbeitslosenversicherung existiert für die meisten nur auf dem Papier. Ohne Arbeit können die wenigsten überleben. Freie Wochenenden oder auch nur Sonntage sind für die allermeisten eine Utopie. Die meisten sind zu einem Arbeitstag von mehr als 9 Stunden gezwungen, oft auch zu Arbeitstagen von mehr als 14 Stunden am Tag – Tag für Tag.

    Widerstand gegen diese Verhältnisse wird in gewissem Maße zugelassen. Er kann der Regierung als Frühwarnsystem dienen, um zu große Konflikte zu vermeiden. Gleichzeitig wird systemgefährdender Protest knallhart unterdrückt. Selbst die konsequente Verteidigung von staatlich garantierten Rechten und Freiheiten wird im Bedarfsfall bestraft. Es darf nicht verwundern, wenn ArbeiteraktivistInnen wie Liu Shaoming jahrelang eingesperrt werden. In China tobt der Klassenkampf. Den Ton gibt eine Elite aus Kapitalisten und Bürokraten an, die ihre Interessen als herrschende und ausbeutende Klasse unbedingt verteidigen.

    Ausufernde Überwachung

    Zur Absicherung der Interessen der Herrschenden wurde ein noch nie gesehenes System der Überwachung geschaffen. Kaum irgendwo auf der Welt wird man so viele Überwachungskameras finden wie in den chinesischen Großstädten ersten Ranges wie Beijing, Shanghai, Hong Kong oder Guangzhou. Die städtische Metro kann nur betreten werden, wenn man sich von etlichen Kameras filmen und sein Gepäck röntgen lässt. Auch die kleineren Städte sind voll von Kameras.

    Es gibt kaum ein Land, in dem das Internet so straff kontrolliert und begrenzt wird, wie es in China der Fall ist. Einen freien Informationsfluss gibt es in China für die allermeisten Menschen nicht. Westliche Informationsplattformen wie Google, Wikipedia, Youtube, Facebook etc. werden stark eingeschränkt oder ganz gesperrt. Etliche kritische Suchbegriffe ergeben in chinesischen Suchmaschinen keine Treffer. Unzählige Angestellte der chinesischen Propagandaabteilungen sind damit beschäftigt, Blogs und zu kritische Kommentare im Netz zu zensieren. Gleichzeitig gibt es eine Unmenge von Apps und Websites, die zur Selbstveräußerung anstacheln.

    Was die Sache noch auf die Spitze treibt, ist ausgerechnet die Verbreitung modernster Kommunikationstechnik. Besonders die Handys ermöglichen in China eine nahezu lückenlose Überwachung. Anders als etwa in Deutschland dienen die Handys nicht mehr bloß zum Telefonieren, SMS-Schreiben, Surfen, Chatten und Fotografieren. In China ersetzt das Handy mehr und mehr den PC, den Laptop, das Tablet, den Fernseher und sogar das Portemonnaie. In den Städten kann man fast alles mit dem Handy bezahlen. Innerhalb von Sekunden kann der Einkauf getätigt werden. Mit dem Smartphone lässt sich nahezu alles bestellen und kaufen – sei es das neue Handy, ein bestimmtes Gericht, ein Zug- oder Flugticket, ein Auto oder ein Haus.

    Das Phänomen der westlichen „Youtuber“, die sich selbst vermarkten, ist in China unendlich verbreiteter. Alles und jeder filmt sich selbst, um sich im Netz zu vermarkten und zu verdingen. In vielen Fällen dürfte der Übergang zur Prostitution fließend sein, denn auch die Prostitution wird in China neuerdings über das Handy organisiert, wenn auch vielfach unter verschiedenen Labels getarnt.

    Kontrolle der Massen oder Selbstbestimmung?

    In China sind sämtliche Apps mit der Handynummer der NutzerInnen und damit mit ihrer Identität verbunden. Das ermöglicht dem chinesischen Staat im Prinzip eine nahezu lückenlose Profilerstellung samt detailliertem Bewegungsprofil eines jeden Handynutzers. Die Kontrolle der Massen durch den kapitalistischen Staat erreicht im heutigen China alptraumhafte Dimensionen, die einen erbleichen lässt. Die Volksrepublik erweist sich damit als ein machtvolles Instrument zur Kontrolle der Volksmassen.

    Gleichzeitig identifizieren sich viele ChinesInnen mit ihrem Staat. Sie sind stolz auf die Errungenschaften Chinas seit der Gründung des Staates 1949. Nicht wenige haben nostalgische Gefühle in Bezug auf die Mao-Ära bis 1976, in der China noch ein unterentwickeltes Agrarland mit sozialistischen Tendenzen war. Einige Menschen protestieren sogar gegen die heutigen Verhältnisse. Die breiten Massen der unteren und mittleren Schichten gehen aber trotz vieler kritischer Ansichten in diesen ausbeuterischen Verhältnissen auf.

    Ausbeutung und Selbstausbeutung sind heute völlig normal in der Volksrepublik. Die Menschen lassen sich weitgehend auf die Ellenbogenmentalität, die Ungleichheiten und die neoliberale Selbstvermarktung ein. Zwar ist nur der Elite wirkliche Selbstbestimmung vorbehalten, aber der „chinesische Traum“ vom individuellen Aufstieg und Wohlstand hat auch die breiten Massen ergriffen. Die prinzipiell unbegrenzte Überwachung und Kontrolle der Massen ist für diese zugleich die einzige Möglichkeit, Selbstbestimmung zu erleben. Die Bevölkerung lässt sich in Ermangelung einer wirklich sozialistischen Alternative täuschen. Die Täuschung besteht in der Alternativlosigkeit des jetzigen Systems. Dabei ist die Alternative zur kapitalistischen Perspektive in China die wirkliche Selbstbestimmung der Massen, der Sozialismus.

     

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    • Perspektive-Korrespondent, Chinaforscher, Filmliebhaber, Kampfsportler

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