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Freitag, April 19, 2024
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    Meine Mutter starb an den Spätfolgen von Ausbeutung und Patriarchat

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    Wenn es um die Frage der Frauenbefreiung geht, hören viele Männer nur ungern hin. Immerhin wird ihnen Mackertum, häusliche Gewalt, bessere Entlohnung und Machthunger im Verhältnis zu Frauen vorgeworfen. Aber was ist, wenn es um die eigene Mutter geht? Viele Jungen und Männer betrachten ihre eigene Mutter als heilig. Was ist, wenn die eigene Mutter ausgebeutet und unterdrückt wird? – Ein Kommentar von Pa Shan anlässlich des 10. Todestages einer Arbeiterin und Hausfrau

    Vor 10 Jahren ist eine fleißige Arbeiterin, Hausfrau und Mutter mit nicht einmal 45 Jahren unter tragischen Umständen verstorben. Die Ärzte hatten Krebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert – zu spät, um sie mit den üblichen Methoden zu retten.

    Für den Chef der Verstorbenen war es eine Unannehmlichkeit. Immerhin war eine langjährige Mitarbeiterin der Supermarktkette ausgefallen und musste ersetzt werden.

    Für ihre Familie war es die größte Katastrophe. Die Verstorbene hinterließ zwei Kinder, darunter eine sechsjährige Tochter, und ihren Ehemann. Auch der weitere Familienkreis litt enorm. Traumata, jahrelange Depressionen und viele weitere Herausforderungen beschäftigten die Angehörigen. Letztlich plagte und zerstörte der Verlust den gesamten Familienzusammenhang.

    Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, als meine Mutter starb. Aber war aus der heilen Welt ein Unheil geworden, oder war die Welt für meine gläubige Mutter bereits vorher entheiligt? Ich hatte zehn Jahre Zeit, um darüber nachzudenken, warum sie gestorben ist.

    Das Leben als Leiden

    Zweifellos, der Krebs löschte ein viel zu kurzes Leben aus. Aber hatte er dieses Leben auch zerstört? Nein, das Leben meiner Mutter war schon viel früher zerstört worden. In Wirklichkeit hat der Krebs nur einen langwierigen Leidensweg beendet, der selbst nur das Symptom eines viel tiefer gehenden Leidens war.

    Meine Mutter hat, solange ich mich erinnern kann, gelitten. Nicht, weil das Leben nichts anderes als Leid wäre, wie die Buddhisten sagen. So „leidet“ auch ein Milliardär. Diese Art von „Leid“ interessiert mich nicht. Meine Mutter hat ganz anders gelitten, gelitten wie unzählige Millionen von einfachen Arbeiterinnen alltäglich leiden.

    Was genau sie erleiden, das wird selten artikuliert. Hier soll benannt werden, was sonst unter einem Mantel des Schweigens oder unter allgemeinen Phrasen verhüllt wird – zumindest soweit ich es ausformulieren kann.

    Leben, um zu arbeiten oder arbeiten, um zu leben?

    Gedenken wir also meiner Mutter. Ihre Wurzeln lagen in der Sowjetunion. Sie war eine einfache Frau, eine Einzelhandelskauffrau an der Kasse und Hausfrau in einem Arbeiter- und Migrantenhaushalt. Bildung, Hobbies, Sport, einen erkennbaren Freundeskreis – all das waren Dinge, die sie sich nicht erlaubt hat. Für sie gab es nur Arbeit und Familie.

    Meine Mutter hat ihr Leben lang schwer gearbeitet. Ich kann mich daran erinnern, dass sie immer Überstunden gemacht hat, sodass sie bereits morgens vor 6 Uhr aus dem Haus war und erst gegen 18 Uhr oder noch später wieder zuhause war. Sie hatte daher kaum Erholungszeit – bis es zu spät war.

    Anders als Managern oder Selbständigen winkte jedoch keine Beförderung oder ein sozialer Aufstieg. Zeit ihres Lebens blieb sie eine einfache Kassiererin. Der Aufstieg blieb ihr verwehrt. Der minimale Zusatzverdienst war lächerlich. Wir waren trotzdem ein armer Haushalt, der sich keinen Urlaub oder Luxus leisten konnte.

    Dennoch blieb sie gegenüber ihrem Chef absolut loyal und betrachtete ihre Arbeit als Ehre und Privileg. Dass die Manager und Eigentümer des Unternehmens – die Kapitalisten – die Einzigen waren, die von ihrer Lohnarbeit profitierten, war ihr egal. Arbeit war ihre Pflicht. Was die Kapitalisten davon hatten, war deren Sache. „Ausbeutung“ war kein Begriff für sie. Vielleicht hielt sie ihn für eine dumme Idee in den sowjetischen Lehrbüchern. Absurderweise hielt sie das kapitalistische Deutschland nahezu für ein Paradies, weil es hier in den Supermärkten 100 Sorten Joghurt von 30 Firmen gibt.

    Als der „Fall Emmely“ durch die Medien geisterte, sagte meine Mutter über ihre Klassenschwester: „Es ist normal, dass man ihr kündigt. Sie hat gestohlen.“ Was hat die Kassiererin Barbara Emme damals „gestohlen“? Flaschenpfand im Wert von 1,30 Euro. Das war für meine konservativ erzogene, religiöse Mutter ein Skandal! Ehrlich, aufrichtig, fleißig und pflichtergeben müsse eine gute Arbeiterin sein!

    Als ich klein war und beim Klauen von 5 Euro erwischt wurde, hatte sie mir daher auch damit Angst gemacht, dass man Dieben früher die Hände abhackte… Aber den täglichen Diebstahl der Kapitalisten an den Arbeitern und Arbeiterinnen fand sie gerechtfertigt. Ihnen drohte sie nicht und ihnen wollte sie keine Angst einjagen. Leider.

    Alkoholismus & Schläge, Arbeitslosigkeit & Schikane

    Auch den Männern drohte sie nicht, denn auch sie hatten Vorrechte, die sie verkehrterweise akzeptierte, und gegen die sie sich kaum wehren konnte, weil sie allein war.

    Ihr erster Mann – ein waschechter Russe und LKW-Fahrer mit „goldenen Händen“, die ihn dazu befähigten, sämtliche Autos per Hand zu reparieren – liebte seine Frau abgöttisch. Noch mehr aber liebte er den Wodka, sodass er sie häufig mit einem Sandsack verwechselte, an dem er seine nie dagewesenen Potenziale als Amateurboxer erproben konnte.

    Die Polizei war in dieser Situation völlig nutzlos, die AnwältInnen, SozialarbeiterInnen und Gerichte ebenfalls. Die zehn Jahre dieser Ehe endeten damit, dass meine Mutter und ich ins Frauenhaus zogen, und er aus Angst vor einem Freund der Familie aus der örtlichen Türsteher-Szene nach Sibirien floh.

    Der nächste Ehemann war ganz anders, aber nicht besser. Er soff nicht und schlug noch nicht einmal zu. Ganz allgemein war er so lethargisch und unterqualifiziert, dass er jahrelang keine Arbeit fand. Um dieser bitteren Realität zu entkommen, vertiefte er sich umso mehr in die digitale Traumwelt der Strategie- und Ballerspiele. Dort konnte er seinem Heroismus Geltung verschaffen. Weniger heroisch waren die kleinen Gemeinheiten, mit denen er meine Mutter über zehn Jahre lang schikanierte.

    Irgendwann fingen sie an, jeden Tag zu streiten, wobei sie ein bestimmtes Muster entwickelten, das nicht zufällig war: Eine Kleinigkeit löste den täglichen Streit aus, sie wurde immer wütender, lief rot an, hob die Stimme, schrie. Er hingegen blieb ruhig, grinste amüsiert, machte sarkastische Kommentare und spöttische Luftküsschen.

    Er musste nichts leisten und wurde wie ein Kind durch ihre Arbeitsleistung in Betrieb und Haushalt versorgt. Als Mann konnte er dennoch Souveränität und Überlegenheit vorgaukeln. Also bestimmte er viele Angelegenheiten der Familie, obwohl er nichts von Bedeutung zu sagen hatte. Egal, wie viel sie leistete – er blieb immer Herr im Haus. Ihre eigentliche Leistung war gleichgültig, obwohl sie unendlich mehr leistete als die Männer der Familie.

    Die „Doppelbelastung der Frau“ umschreibt diese Situation gut. Denn sie hat nicht nur die Rolle des Lastentiers im Betrieb, sondern auch im Haushalt übernommen, während die Männer im Haushalt untätig blieben und es sich bequem machten. Zugleich ist es ein Euphemismus, denn es geht um weit mehr als um ein wenig mehr „Belastung“.

    Kranke Verhältnisse machen krank

    Das, was meine Mutter wirklich krank gemacht hat, waren ihre Lebensverhältnisse, ihre Arbeit und ihr Privatleben. Wenn ein Mensch sich nicht erholen kann, weil es immer und überall Stress gibt, dann beschädigt das nicht nur die Leistungsfähigkeit, sondern auch das Immunsystem und die geistige Gesundheit.

    Menschen werden sichtlich krank, reagieren gereizt und fallen einer Erschöpfung zum Opfer, die sich nach ein oder zwei Tagen Auszeit nicht beheben lässt. Wenn dies jahrelang oder jahrzehntelang andauert, muss ein Mensch krank werden.

    Das heißt nicht, dass Arbeit und Familie unbedingt krank machen. Es heißt, dass eine Arbeiterin unter den Bedingungen extremer Ausbeutung und männlicher Unterdrückung auf Dauer zugrunde geht.

    Es sind Ausbeutung und Patriarchat, die die Arbeiterinnen und Mütter schleichend kaputt machen. Woran eine fleißige Arbeiterin und Mutter mit Krebs vor 10 Jahren wirklich gestorben ist? An den Spätfolgen von Ausbeutung und Patriarchat. Ihre Krebserkrankung war nur die Langzeitfolge krank machender Verhältnisse, die wir überwinden sollten, wenn uns das Wohl unserer Mütter ein ernstes Anliegen ist.

    • Perspektive-Korrespondent, Chinaforscher, Filmliebhaber, Kampfsportler

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