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Zeitung für Solidarität und Widerstand

Schulöffnung – eine gute Idee?

Seit dem vierten Mai müssen viele Kinder und Jugendliche wieder die Schule besuchen. Hygienemaßnahmen und penible Abstandsregeln sollen die Sicherheit der SchülerInnen und Lehrkräfte vor Infektion schützen. Ob diese Maßnahmen helfen, wenn vielerorts hunderte Menschen in einem Gebäude lernen und arbeiten müssen, bleibt fraglich – Ein Kommentar von Hedwig Scholle

Durch das undurchsichtige föderale Bildungssystem ist es derzeit schwierig, sich einen Überblick über die bundesweite Umsetzung der schulischen Maßnahmen zu verschaffen. Klar ist, dass in jedem Bundesland wieder viele SchülerInnen ihre Schulpflicht uneingeschränkt wahrnehmen müssen. Dies betrifft unter anderem Jahrgänge wie die Klassen 12 und 10, in denen – trotz Coronakrise und Online-Lernen – Prüfungen abgelegt werden müssen.

Viele Eltern und Familien fragen sich nun zu Recht, ob ihre Kinder ausreichend geschützt sind. Jedes Bundesland und jede Schule legt einen mehr oder weniger unabhängigen Plan vor, um genau das zu versichern. Fast überall heißt es also Maskenpflicht, Mindestabstände und Desinfektion, doch sind diese Maßnahmen ausreichend, wenn man mehrere hundert Menschen in ein Gebäude steckt?

Seit Jahren zu große Klassen

Sicherlich, es werden Klassen nun häufig auf zwei oder mehr Räume aufgeteilt und Türen offen gelassen, sodass sich keiner mehr an Türklinken infizieren kann. Gleichzeitig muss man aber erinnern, dass Klassengrößen seit Jahren wegen Lehrermangels wachsen und dass gerade kleinere Schulen nur wenige große Räume zur Verfügung haben.

Dies führt dazu, dass entweder zu viele SchülerInnen in einem Raum lernen müssen, um Mindestabstände einhalten zu können oder eben eine Lehrkraft in 3 bis 4 Räumen gleichzeitig unterrichten muss. Mit diesem System ist das Lernen nicht viel effizienter als Online-Unterricht.

Ein legitimes Risiko?

SchülerInnen in Risikogruppen ist es zwar fast überall erlaubt, zu Hause zu bleiben, aber es gibt beinahe keine Regelungen für SchülerInnen, die mit besonders gefährdeten Menschen zusammenleben. Wohnt man bei seinen Großeltern oder hat ein Geschwisterkind Asthma, ändert das nichts am Vollzug der Schulpflicht. Einige SchülerInnen werden also gezwungen, geliebte Menschen, bei denen eine Infektion verheerende Folgen haben könnte, zu gefährden.

Man darf nicht vergessen, dass wir es hier mit einem Virus mit einer exponentiell wachsenden Infektionsrate zu tun haben. Wir können uns in Deutschland glücklich schätzen, eine im Vergleich sehr geringe Todesrate (ca. 4% aller Infizierten) zu haben. Aber zum einen kann sich das sehr schnell ändern, sollte die Infiziertenzahl ansteigen. Zum anderen sind selbst 9 Tote auf 100.000 Einwohner eine zu hohe Zahl, um zu riskieren, dass sich die Infiziertenzahl drastisch erhöht.

Die Wiedereröffnung der Schulen ist unbestreitbar ein Risiko. Wie groß dieses Risiko ist, ist zwar nicht eindeutig klar, aber man muss sich grundsätzlich fragen, ob es legitim und verhältnismäßig ist, wenn man sich anschaut, wofür man es eingeht. Letztendlich scheint die Schulöffnung – selbst wenn man Prüfungen abnehmen will – nicht besonders sinnvoll.

Entlastung?

Außerdem zeigt sich, sowohl durch den bisherigen Online-Unterricht als auch durch die Wiedereröffnung der Schulen, dass die bisherige Umsetzung nicht gleich fair gegenüber allen SchülerInnen ist. Kinder und Jugendliche, die einen schlechteren oder gar keinen Zugang zum Internet oder Computern haben, hatten bisher einfach nicht die gleichen Lernchancen und haben nun Probleme mitzuhalten.

Das Gleiche gilt für SchülerInnen, die zu Hause wegen der Schulschließungen auch noch ihre Geschwister betreuen mussten, oder diejenigen (besonders jüngeren) SchülerInnen, die wenig bis keine Unterstützung von ihren Eltern erhalten. Anstatt nach einer sinnvollen Lösung für ebendiese Probleme zu suchen, preisen nun viele PolitikerInnen, dass die Schulöffnungen eine Entlastung für Familien brächten.

Dieses Argument stimmt aber nur teilweise. Sicherlich werden vor allem Eltern durch die Schulöffnung entlastet. Aber selbst diese Entlastung ist häufig nicht sonderlich bedeutend, da besonders jüngere Kinder, die ja bevorzugt betreut werden müssen, weiterhin gar nicht oder nur selten die Schule besuchen dürfen.

Gleichzeitig werden SchülerInnen durch die Wiedereröffnung der Schulen nur noch stärker belastet: da nun viele Kontrollen stattfinden oder Tests und Klausuren in kürzester Zeit geschrieben werden müssen, um ja noch genug Zensuren bis zum Schuljahresende zusammenzubekommen.

Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass all diese Maßnahmen ergriffen werden, während es immer noch starke Einschnitte ins alltägliche Leben und die Grundrechte der BürgerInnen gibt. Mit anderen Worten: mehr als 100 Demonstrierende oder mehr als 2 Haushalte, die sich z.B. auf einem Spielplatz treffen, sind weiterhin vielerorts verboten – doch mehrere hundert Menschen verschiedenster Haushalte in ein Schulgebäude zu stecken, ist erlaubt und sogar verpflichtend.

Herbert Scholle
Herbert Scholle
Perspektive-Autor seit 2023 und -Redakteur seit 2024. Der Berliner Student schreibt besonders gern über Arbeitskämpfe und die Tricks der kapitalistischen Propaganda. Er interessiert sich außerdem für Technologie und Fußball sowie deren gesellschaftliche Auswirkungen.

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