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Donnerstag, März 28, 2024
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    20 Jahre nach 9/11: Klassenkampf statt „Kampf der Kulturen“!

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    Nach dem Ende der Sowjetunion benötigten die herrschenden Klassen im kapitalistischen Westen eine neue Legitimationsideologie, um die Unterdrückten im Inneren gegeneinander auszuspielen und zugleich die eigene Kolonisierung anderer Länder voranzutreiben. Sie fanden sie in der These “Kampf der Kulturen” – des “Zivilisierten Westens” gegen den “barbarischen Islam” – der mit dem 11. September 2001 massenhaft von oben verbreitet wurde. Wir sollten uns davon lösen. – Ein Kommentar von Tim Losowski

    Am 11. September 2001 ging ich noch in die Schule. Ich erinnere mich, wie am nächsten Morgen unsere Pausenhalle und Aula mit Kerzen bestückt war. Es wurde leise gesprochen, der Unterricht fiel aus, einige Schüler:innen weinten. So etwas habe ich während meiner gesamten Schulzeit weder davor noch danach erlebt.

    Noch heute können sich viele Menschen erinnern, „wo sie waren“ – das gilt nicht für viele Zeitpunkte vor 20 Jahren. Und zeigt, wie einflussreich dieses Datum auf das Bewusstsein von Millionen Menschen ist.

    Die diffuse Frage nach dem „warum?“ und „was tun?“, die viele Menschen umtrieb, eröffnete der westlich-imperialistischen Propaganda die Möglichkeit, ihre ideologische Neuausrichtung in der Bevölkerung zu verbreiten.

    Ein neues Feindbild

    Mit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1990 war der „rote, enteignende, unterdrückende kommunistische Russe“ verschwunden, mit welchem die kapitalistischen Mächte über Jahrzehnte versucht hatten, die Arbeiter:innen an „ihr Land“ zu binden.

    Doch auch wenn es das endgültige Ende des ersten Anlaufs zum Aufbau des Sozialismus war, so war es nicht das Ende des Imperialismus auf dieser Welt. Dessen unstillbarerer Drang nach neuen Märkten überrollte diejenigen Länder, die nun wieder völlig frei für die kapitalistische Ausbeutung wurden. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt begann vom Neuem. Doch wie sollte man die eigene Bevölkerung davon überzeugen?

    Dafür entwickelte der amerikanische Soziologe und Berater des US-Außenministeriums Samuel Huntington ab 1993 die These vom „Kampf der Kulturen“: „In der Welt nach dem Kalten Krieg sind die wichtigsten Unterscheidungen zwischen Völkern nicht mehr ideologischer, politischer oder ökonomischer Art. Sie sind kultureller Art“, erklärte er. Eine besondere Bedrohung für den „Westen“ sah er in der islamischen Welt.

    Um weiterhin die Welthegemonie gegenüber diesen Bedrohungen zu behalten, müsse sich der Westen laut Huntington klar sein, dass er seine Überlegenheit über die Welt nicht aufgrund der „Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder Religion (…) sondern aufgrund einer Überlegenheit, organisierte Gewalt anzuwenden“ gewonnen hätte.

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    Legitimation zur Eroberung

    Nach den Angriffen vom 11. September 2001 folgte der damalige amerikanische Präsident George W. Bush dieser Linie vollkommen. Fünf Tage nach den Angriffen erklärte er: „Dies ist eine neue Art von – eine neue Art des Bösen. Und wir verstehen das. Und das amerikanische Volk beginnt es zu verstehen. Dieser Kreuzzug, dieser Krieg gegen den Terror wird eine Weile dauern.” Es folgten unter diesem letztlich christlich-fundamentalistischem Banner die Invasionen in Afghanistan (2001-2021) und später im Irak (2003-2011).

    Die Vorstellung des Kampfs der „christlich-abendländischen Zivilisation“ gegen den „barbarischen Islam“ hat sich danach nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland in Millionen Köpfen festgesetzt. Hier hatte bereits 1995 der Präsident des deutschen Inlandsgeheimdienstes „Bundesamt für Verfassungsschutz“ (BfV), Eckart Werthebach, festgestellt, dass ein neuer Gegensatz zwischen dem „christlich-abendländischen Kulturkreis“ und einem „aggressiven Islamismus“ an die Stelle des Ost-West-Konflikts treten könnte. Mit Beginn des Afghanistan-Kriegs wurde diese Linie auch in Deutschland massiv propagiert.

    Spaltung im Inneren

    Dies diente den deutschen Herrschenden nicht nur dazu, die nötige Stimmung für den Angriffskrieg auf Afghanistan (“für Frauenrechte und Brunnenbohren”) zu schaffen. Es gelang ihnen auch die Spaltung unserer Klasse voranzutreiben.

    Muslime und Menschen aus islamisch geprägten Ländern gehören heute in Deutschland überwiegend zur Arbeiter:innenklasse und dort auch zu den am meisten ausgebeuteten. Es liegt im strategischen Interesse der Herrschenden, entlang von religiösen Spaltungslinien die verschiedenen Teile unserer Klasse gegeneinander auszuspielen, um eine Solidarisierung gegen die Herrschenden zu verhindern.

    Zudem wurde unter dem Deckmantel des “Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ die Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit, das Trennungsgebot zwischen Geheimdiensten und Polizei immer weiter aufgeweicht. Fundamentalistische Anschläge wie der auf den Breitscheidplatz 2016 wurden dadurch jedoch nicht verhindert. Stattdessen stehen Arbeiter:innenkämpfe nun einem hochgerüsteten Staatsapparat gegenüber.

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    Klassenkampf statt “Kampf der Kulturen”

    Um dieser Spaltung etwas entgegenzusetzen, müssen wir den „Kampf der Kulturen“ als das entlarven, was er ist: ist eine Erfindung der Herrschenden, um den Kampf der Klassen zu verdecken.

    Dabei ist klar: Dem Kampf der Klassen entspricht auch der Kampf zwischen fortschrittlicher und reaktionärer Kultur, von denen es in allen nationalen Kulturen Elemente gibt. Wir sollten in unserer Argumentation nicht die „islamische Kultur“ gegen die „christliche Kultur“ aufwiegen, oder anhand von Bibel und Koran aufzeigen, wer rückschrittlicher ist, oder unter welchem Banner mehr und größere Verbrechen begangen wurden.

    Stattdessen sollten wir den Klasseninhalt hinter der religiösen Form aufzuzeigen: Die Vorkämpfer der „christlich-abendländischen Kultur“ dienen vor allem den Interessen des westlichen Imperialismus, der eine Legitimationsideologie für die Eroberung anderer Länder sowie die Spaltung der Klasse nach innen benötigt.

    Die djihadistischen Propagandisten des islamischen Fundamentalismus wiederum nutzen ihre Ideologie, um unterdrückte Massen hinter ihre eigenen Herrschaftsprojekte in Westasien zu scharen.

    Am Ende des Tages sind beide reaktionäre Kulturen, die nur verschiedene Formen annehmen. An deren Stelle sollten wir eine klassenkämpferische Praxis und Kultur setzen, welche die fortschrittlichen Elemente verschiedener Kulturen verbindet, dabei die rückschrittlichen bekämpft und unsere gemeinsamen Interessen als Arbeiter:innenklasse in den Vordergrund stellt.

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    • Perspektive-Autor und -Redakteur seit 2017. Schwerpunkte sind Geostrategie, Rechter Terror und Mieter:innenkämpfe. Motto: "Einzeln und Frei wie ein Baum und gleichzeitig Geschwisterlich wie ein Wald."

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