Im zentralasiatischen Kasachstan hat sich ein Streik von Öl- und Gasarbeiter:innen gegen Energiepreiserhöhungen und für mehr Lohn in einen Generalstreik und einen anschließenden Volksaufstand entwickelt. Nachdem die Regierung zurücktrat und der Präsidentenpalast gestürmt wurde, hat ein russisch geführtes Militärbündnis 3.000 Soldaten zu Niederschlagung des Aufstands entsandt. Wie kam es soweit? – Eine Chronik.
1. Januar: Explosion des Gaspreises
Kasachstan ist eines der rohstoffreichsten Länder der Erde mit riesigen Öl- und Gasaufkommen – vergleichbar im Umfang etwa mit denen der arabischen Halbinsel. Gas wird sowohl zum Heizen als auch zur Fortbewegung verwendet, da viele Autos mit Autogas betrieben werden.
Seit Januar 2019 begann die kasachische Regierung, Stück für Stück staatliche Subventionen zurückzufahren, den Preis mehr über den „Markt“ zu bestimmen und das Land massiv für amerikanische Großkonzerne wie Chevron und ExxonMobil bei der Erschließung seiner Ölfelder zu öffnen. Auch deshalb erklärte US-Präsident Biden in einer Botschaft an den derzeitigen Staatschef Kassym-Jomart Tokajew im September letzten Jahres, dass „die Vereinigten Staaten stolz darauf sind, Ihr Land als Freund zu bezeichnen“.
Schon im Januar 2020 gab es erste Proteste in der Region Zhanaozen, als das Gas von 55 Tenge (etwa 10 Eurocent) auf 65 Tenge (etwa 13 Eurocent) pro Liter stieg. Nun um den Jahreswechsel zum ersten Januar explodierte der Gaspreis von 60 Tenge auf 120 Tenge – also von 12 ct auf 24 ct pro Liter. Was sich wenig anhören mag ist sehr viel für ein Land, in dem der Durchschnittslohn bei etwa 500€ pro Monat liegt.
2. Januar: Gas-Arbeiter:innen initiieren den Protest
Eine Verdopplung der Gaspreise, obwohl das Land selbst so reich an Erdgas ist? – dieser Umstand führte auf Initiative von Erdgas- und Öl-Arbeiter:innen bereits am 2. Januar zu Protesten in Zhanaozen. Die Region hat eine lange Geschichte von Arbeiterkämpfen: Schon im Jahr 2011 kam es zu größeren Streiks und Unruhen ,die vom Militär brutal niedergeschlagen wurden – 16 Arbeiter:innen starben. Doch die Organisierung der Arbeiter:innen konnte sich wieder aufbauen, wie sich am Sonntag zeigte, als bereits erste Straßen in der Region blockiert wurden und Protestkundgebungen begannen.
Hierbei ist zu erwähnen, dass Kundgebungen in Kasachstan ausgesprochen selten sind, da ihnen normalerweise sofort mit Verhaftungen begegnet wird. Dieses Mal hatten diese jedoch eine starke Dynamik. Die „Sozialistische Bewegung Kasachstan“ berichtet, dass „die Arbeiterkollektive die Kundgebungen nutzten, um ihre eigenen Forderungen nach einer 100-prozentigen Lohnerhöhung, der Annullierung von Optimierungsergebnissen, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Freiheit der Gewerkschaftsarbeit vorzubringen“.
Über Nacht versammelten sich Hunderte auf dem zentralen Platz der Stadt Zhanaozen, um die Kundgebungen fortzusetzen.
3. Januar: Energieminister kann die Lage nicht beruhigen
Am 3. Januar besuchte der Energieminister Nurlan Nogaev die Kundgebung, wurde jedoch von der wütenden Menge vom Platz vertrieben. In anderen Städten wie zum Beispiel Aktau wurden Zelte auf zentralen Plätzen aufgeschlagen, bis zum Abend sammelten sich dort rund 6.000 Demonstrierende.
Zu diesem Zeitpunkt sei laut SKB die gesamte Region Mangistau von einem Generalstreik erfasst worden, der auch auf die benachbarte Region Atyrau übergriff.
4. Januar: Weitere Streiks und Eskalationen
Am Dienstag, den 4. Januar, traten auch Ölarbeiter von Tengizchevroil in den Streik. Hier liegt laut SBK die Beteiligung amerikanischer Unternehmen bei 75 Prozent, und es sei im vergangenen Dezember zu einer Entlassungswelle von 40.000 Beschäftigte gekommen. Später am Tag seien die Proteste dann von Ölarbeitern aus den Regionen Aktobe, Westkasachstan und Kyzylorda unterstützt worden.
Außerdem begannen am Abend desselben Tags die Streiks der Bergleute des luxemburgischen Konzerns ArcelorMittal, „was bereits als Generalstreik in der gesamten mineralgewinnenden Industrie des Landes angesehen werden kann“, so die SBK. Auch hier seien weitere Forderungen erhoben worden: höhere Löhne, ein niedrigeres Rentenalter, das Recht auf Gewerkschaften und das Streikrecht.
Eine Anküdigung von Regierungschef Kassym-Jomart Tokayev, den Gaspreis wieder auf 50 tenge abzusenken konnte die Proteste nicht beruhigen. Am selben Tag versammelten sich in der größten Stadt des Landes Alamty bereits 1.000 Demonstrierende, in der Nacht kam es dann zu den ersten heftigen Ausschreitungen.
5. Januar: Aufstand
Am 5. Januar morgens erklärte Regierungschef Kassym-Jomart Tokayev, dass alle Minister entlassen seien und dass die staatliche Preiskontrolle über den Gaspreis wieder eingeführt würde. Zudem wurden der Ausnahmezustand sowie eine Ausgangssperre verhängt, das Internet wurde abgeschaltet.
Doch der Aufstand war nicht mehr aufzuhalten. So stürmten Demonstrierende in Almaty das Büro des Bürgermeisters. Polizeistationen wurden übernommen und Waffen verteilt, der Flughafen besetzt. Das Wohnhaus des Präsidenten wurde mit Feuerwaffen und Granaten angegriffen, die Parteibüros der Regierungspartei „Nur Otan“ in Brand gesteckt.
In Taldıqorğan wurde eine Statue des ehemaligen Staatschefs Nasarbajew von Demonstranten abgerissen und zerstört. Sie riefen „Alter Mann, verschwinde!“. Nasarbajew, der das Land bis 2019 mit harter Hand regierte, gilt vielen Beobachter:innen als tatsächlicher Machthaber im Lande. Um sich vom verhassten Nasarbajew zu distanzieren, erklärte Tokajew, dass er die Leitung des nationalen Sicherheitsrats von Nasarbajew übernommen habe. Auch tauschte er den Geheimdienstchef aus. Doch auch damit konnte er den Aufstand ebenso wenig stoppen.
Aufgrund der eskalierenden Situation erklärte Tokajew, er betrachte die Proteste als eine „externe“ und „terroristische“ Bedrohung, und bat die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) um „Unterstützung“.
Hintergrund des Rufs nach Unterstützung des russisch geführten Militärpakts ist auch, dass sich zwischenzeitlich Teile der kasachischen Polizei und Militärs auf die Seite der Protestierenden stellten. In den sozialen Medien sind Videos im Umlauf, die offenbar zeigen, wie einige Polizisten in Solidarität mit den Demonstranten in den westlichen Städten marschieren und wie in Almaty massiv Schusswaffen an die Demonstranten verteilt wurden.
Möglicherweise geht die Regierung davon aus, dass ausländisches Personal eher bereit ist, unter dem Deckmantel einer „Anti-Terror“- oder „Friedenssicherungs“-Operation harte Unterdrückungsmaßnahmen anzuwenden.
6. Januar: russischer Einmarsch zur Niederschlagung
Bereits in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar wurde der Flughafen durch Spezialeinheiten geräumt. Videos zeigen, wie Soldaten auf Aufständische scharf schießen. In den frühen Morgenstunden erreichten etwa 3.000 russische Soldaten Kasachstan. Sie versuchen seit gestern den ganzen Tag über, das Land wieder unter Kontrolle zu bringen. Tausende Menschen wurden festgenommen, Dutzende getötet. Währenddessen gehen die Proteste in verschiedenen Städten, insbesondere in Zhanaozen, unvermindert weiter.
Kassym-Schomart Tokajew kündigte an, dass die – von ihm so bezeichneten – Antiterror-Einsätze bis zur »kompletten Auslöschung der Kämpfer« andauern sollen. In der Nacht auf den 7. Januar erklärte er, die Lage seit weitgehend wieder unter Kontrolle. Da das Internet abgestellt ist und somit nur wenige Informationen nach außen dringen, kann dies nicht unabhängig bestätigt werden.