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Dienstag, April 23, 2024
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    Das Haus Gottes wackelt

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    Ein neues Gutachten über sexuellen Missbrauch und den Umgang der katholischen Kirche mit ihm lässt die Risse in der scheinheiligen Fassade größer werden. Die Krise der Kirche vertieft sich, Gläubige protestieren mit verschiedenen Mitteln.

    Bereits am 20. Januar wurde die katholische Kirche in Deutschland durch ein weiteres Gutachten erschüttert, welches das Ausmaß der Vertuschung und des versöhnlerischen Handelns gegenüber Priestern und anderen Kirchenmitarbeitern aufzeigt, denen sexueller Missbrauch vorgeworfen wird.

    Das Gutachten wurde im Auftrag der Erzdiözese München und Freysing von der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) erstellt. Es umfasst knapp 1.900 Seiten und ist auf der Webseite der Kanzlei frei zugänglich.

    Natürlich sind derartige Vorwürfe nichts Neues. Es ist traurige Realität, dass fast ununterbrochen neue Fälle von sexuellem Missbrauch in den Institutionen der Kirche, aber auch anderen Teilen der Gesellschaft öffentlich werden.

    Die Erlebnisse und Traumata der Opfer liegen dabei oft Jahrzehnte zurück, bis die Betroffenen es schaffen, über das, was ihnen angetan wurde, zu sprechen.

    Schon 2018 führte die sogenannte MHG-Studie, die einen besonderen Schwerpunkt auf die Zustände im Erzbistum Köln legte, zu einer nachhaltigen Erschütterung des Vertrauens der Kirchenbasis in diese Institution. Im Jahr 2022 zeigen sich die Risse in der katholischen Kirche nun umso tiefer. Besondere Brisanz bekommt das Gutachten, weil der ehemalige Papst Benedikt XVI.  derzeit als Kardinal Josef Ratzinger in München fünf Jahre als Erzbischof tätig war.

    Vielfältiger Protest inner- und außerhalb der Kirche

    Gläubige und Betroffene jedenfalls protestieren momentan auf vielfältige Art und Weise gegen den institutionalisierten Missbrauch in der katholischen Kirche. So hatten schon am 19. Januar – also einen Tag, bevor der Bericht vorgestellt wurde – kirchliche Reformgruppen wie “Wir sind Kirche” und “Maria 2.0” gegen die Vertuschung demonstriert.

    Nach der Veröffentlichung des Gutachtens gingen einzelne Gemeinden dazu über, ihren Protest mit für die Kirche ungewöhnlichen Mitteln zum Ausdruck zu bringen: In einer Aschaffenburger Gemeinde beispielsweise ließ man den sonntäglichen Gottesdienst nun bereits zwei Wochenenden in Folge ausfallen, am kommenden Sonntag soll die Aktion ein drittes Mal wiederholt werden.

    Pfarrer und Gemeinderat hatten sich darauf geeinigt, statt des üblichen Gottesdienstes einen Raum zu schaffen, in dem der Opfer sexuellen Missbrauchs gedacht werden kann und diese zu Wort kommen. Neben Passagen aus dem vorgestellten Bericht, die vorgelesen werden, kommen dort auch tatsächlich Betroffene zu Wort und berichten von ihren Erfahrungen.

    Beim für die Gemeinde zuständigen Bistum Würzburg stößt diese Form des Protests und der Solidarität mit Betroffenen auf Kritik. Die Solidarität mit Betroffenen teile man zwar, die Aussetzung der katholischen Messe, sei aber in keinem Fall die richtige Reaktion. Die Gemeinde hat sich bewusst entschieden, ihren Protest dennoch fortzusetzen.

    Auch von einem Bündnis in München wurde am 27. Januar erneut protestiert: Hier forderte der “Bayerische Bund für Geistesfreiheit” unter anderem die Passant:innen auf, sich zum Zeichen des Protests von der Kirche abzuwenden und auszutreten.

    Ob es dieser Protest-Aktion zu verdanken ist oder nicht, sei dahingestellt: Fakt ist jedoch, dass viele Katholik:innen genau diesen Schluss ziehen und – wie zuvor schon in anderen von Missbrauchsskandalen erschütterten Gemeinden – scharenweise aus der Kirche austreten.

    Schon in den ersten vier Tagen nach Veröffentlichung des Gutachtens hatten 450 Münchner:innen Termine für den Kirchenaustritt beim Kreisverwaltungsreferat gebucht. Das seien doppelt so viele wie sonst üblich. Um mit dem zu erwartenden Andrang klar zu kommen, werden nun zwei zusätzliche Mitarbeiter:innen eingesetzt.

    Die wichtigsten Inhalte des Gutachtens

    Das Gutachten zeichnet in der Tat ein erschreckendes Bild von den Zuständen in der katholischen Kirche und von ihrem Umgang mit den Betroffenen von Gewalt und Missbrauch. Insgesamt wurden in dem Gutachten Vorwürfe gegenüber 235 Personen berücksichtigt, wobei fast 80% der Beschuldigten katholische Kleriker sind.

    363 konkrete Fälle wurden dabei untersucht, wobei schon das Gutachten davon ausging, dass es ein enorm großes Dunkelfeld geben müsse. Diese Annahme wurde auch prompt bestätigt, als sich nach Veröffentlichung des Gutachtens weitere Opfer meldeten. Am 3. Februar waren es bereits fünfzehn betroffene Personen.

    Von den untersuchten gut 360 Fällen sehen die Gutachter:innen in 211 Fällen die Tatvorwürfe als erwiesen oder plausibel an. In nur 11 Fällen halten sie die Vorwürfe für widerlegt und müssen zugleich feststellen, dass sie in 141 Fällen keine ausreichende Beurteilungsgrundlage haben.

    Verurteilt wurde allerdings nur ein kleiner Bruchteil der Beschuldigten. So kam es zu 90 staatlichen Strafverfahren mit 46 Verurteilungen. Diese nicht gerade positive Bilanz der staatlichen Strafverfolgung wird aber vom Ausmaß der kirchlichen Untätigkeit noch weit in den Schatten gestellt.

    Die Kirche hat in Deutschland nach wie vor das seltsame Privileg, dass sie ein eigenes Kirchenrechtssystem unterhält. In diesem hätten Täter verurteilt werden müssen, um bestimmte Disziplinarmaßnahmen wie den Entzug der Priesterwürde möglich zu machen. Es ist jedoch in lediglich 14 Fällen überhaupt zu sogenannten kirchlichen Voruntersuchungen gekommen und in nur zwei Fällen zu kirchlichen Strafverfahren.

    40 der Beschuldigten waren auch nach Bekanntwerden der jeweiligen Vorwürfe weiter in der Seelsorge tätig, 18 von ihnen trotz einer staatlichen Verurteilung.

    Die insgesamt 497 berücksichtigten Betroffenen sind dabei zu ungefähr gleichen Teilen männlich und weiblich. Der Anteil von Kindern unter den Betroffenen ist bei allen Geschlechtern überproportional hoch.

    Besonders bemerkenswert ist, dass die Vertuschungsbemühungen der Verantwortlichen nicht etwa Ausdruck einer allgemeinen Ignoranz für das Thema waren. So würden in den 1950er Jahren wenigstens noch vereinzelte disziplinarische Maßnahmen gegen Kleriker, denen Missbrauch vorgeworfen wurde, festgestellt. Ab den 1960er Jahren sei dies aber zunehmend einem von “Milde und Nachsicht” geprägten Umgang gewichen.

    Auch arbeitet das Gutachten deutlich heraus, dass sogenannte Laien, also Mitarbeiter der Kirche, die aber kein geweihtes Amt (Diakone, Priester, Bischöfe) bekleiden, durchgängig deutlich härter von der Kirche zur Rechenschaft gezogen wurden als beispielsweise Priester.

    Offenbar mangelte es also nicht am Unrechtsbewusstsein, sondern der Kampf gegen sexualisierte Gewalt war den Verantwortungsträgern in der Kirche schlicht jahrzehntelang deutlich weniger wichtig als Einfluss und Macht der eigenen (schein-)heiligen Institution.

    Auch unter dem amtierenden Kardinal Marx wurde nicht konsequent gegen Missbrauch gekämpft

    Zwar bescheinigt die Anwaltskanzlei der Erzdiözese eine gewisse Veränderung im Umgang mit Missbrauchsfällen seit dem Jahr 2010, aber auch der amtierende Kardinal Marx und seine Vertrauten kommen nicht ohne Kritik davon.

    So hat auch Kardinal Marx nach Einschätzung des Gutachtens zumindest fahrlässig zugelassen, dass Berichte und Anträge für kirchliche Sanktionen in der katholischen Bürokratie versandeten. Außerdem sei zwar die Stelle der Missbrauchsbeauftragten mehr in den Vordergrund getreten und habe die Hauptverantwortung bei der Bearbeitung von Vorwürfen übernommen. Das wird als Fortschritt gewertet gegenüber der vorherigen Praxis, bei der andere kirchliche Würdenträger aktiv werden.

    Diese Missbrauchsbeauftragten allerdings haben ebenfalls noch in den 2010er-Jahren ihre Rolle so ausgelegt, dass sie selbst zu ermitteln hätten, ob sich der Missbrauchsvorwurf erhärten lasse. Teilweise wurde hier in sogenannten Aussage-gegen-Aussage-Situationen der Grundsatz “im Zweifel für den Angeklagten” angewandt und davon ausgehend in fast allen Fällen von einer Weiterleitung der Vorwürfe an die Staatsanwaltschaft abgesehen.

    Das Gutachten bemerkt hierzu mit spitzer Zunge , dass es “für die Gutachter nicht überraschend [sei], dass die Meldung an die Staatsanwaltschaft in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht erfolgt ist, da der Nachweis einer Missbrauchstat mit den Mitteln der Sachbearbeiter der Erzdiözese in der Regel nicht zu leisten war.”

    Hier hat erst die öffentliche Diskussion des Missbrauchsskandals in Köln zu einem Umdenken geführt und die Münchner katholische Kirche bewogen, grundsätzlich alle der ihr bekannten Vorwürfe an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten.

    Wie geht es weiter im Haus Gottes?

    Auch wenn das Gutachten zu dem Schluss kommt, dass ab 2010 ein veränderter Umgang festzustellen sei, steht die Vermutung im Raum, dass dies unter anderem wegen des massiven öffentlichen Drucks geschah und auch, um den Zerfall der katholischen Kirche in Deutschland aufzuhalten. Hierzu das Gutachten:

    “Inwieweit die in der Folge veränderte Haltung [nach 2010] gegenüber den Belangen der Geschädigten bei den kirchlichen Leitungsverantwortlichen auf einer tieferen inneren Einsicht und gesteigerten Empathie für das Leid der Geschädigten beruhte oder nur der Erfüllung einer Erwartungshaltung der Öffentlichkeit geschuldet war, ist jedoch eine der gutachterlichen Beurteilung entzogene Frage.”

    Für Kardinal Marx jedenfalls könnte es eng werden. Schon wird darüber spekuliert, dass er dem Papst erneut seinen Rücktritt anbieten wird. Durchschaubarer Weise sucht er jedoch nun zunächst sein Heil in der Flucht nach vorne. Letzte Woche hatte er in einem großen Interview unter anderem den Zölibat in Frage gestellt.

    Dass eine Aufhebung des Zölibats allein Missbrauch eindämmen und verhindern könnte, darf ohnehin bezweifelt werden; es ist nämlich auch naheliegend, dass es ganz andere Gründe für das erneute Aufkommen dieser Diskussion in der katholischen Kirche gibt: nämlich den ausgeprägten Priestermangel in so manchen Teilen der Welt.

     

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