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Freitag, April 26, 2024
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    Antikriegsproteste und staatliche Repression in Russland – Eine erste Bestandsaufnahme

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    Seit Beginn der militärischen “Spezialoperation“ in der Ukraine gab es in Russland Antikriegsproteste. Gleichzeitig hat der russische Staat damit begonnen, oppositionelle Medien und politischen Widerstand gegen den Krieg zu unterdrücken. Im Folgenden eine unvollständige Bestandsaufnahme von unserem russischsprachigen Korrespondenten.

    Seit Beginn der militärischen „Spezialoperation“ der russischen Truppen in der Ukraine gab es in etlichen Städten spontane Proteste in Form von Kundgebungen, Demonstrationen, Aufrufen zum Widerstand, Verbreitung von Gegendarstellungen, Kritiken an Politik und Militärs und individuelle Widerstandshandlungen, die seither nicht abreißen.

    Bereits unmittelbar nach Beginn der Invasion hatten in Russland am 24. und 25. Februar Proteste in mehr als 60 Städten stattgefunden. Am 3. März versammelten sich dann auf dem Roten Platz in Moskau und auf dem Newski-Prospekt in Sankt Petersburg hunderte von Menschen gegen den Krieg. Laut aa.com kam es am 3. März in insgesamt 32 Städten zu öffentlichen Antikriegsprotesten. Am 6.3. waren es 65 Städte laut OVD-News.

    „Нет войне!“ – Auch in Russland Proteste gegen den Krieg

    Dabei gibt es auch verzweifelte Aktionen: Staatlichen Behörden zufolge fuhr ein Mann am 27. Februar mit einem Auto absichtlich auf den Bürgersteig des Puschkin-Platzes, beschädigte den Metallzaun und zündete dann das Innere des Autos an. Im Internet erschien ein Video des Vorfalls, in dem das Auto mit der Aufschrift „Leute, steht auf!“ und „Das ist Krieg“ zu sehen ist.

    Auch mehrere Abgeordnete der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), die sich zuvor für die Anerkennung der Volksrepubliken von Donezk und Luhansk ausgesprochen hatten, protestieren nun lautstark gegen den Krieg – vor dem Hintergrund, dass die KPRF mit 19 Prozent die stärkste Oppositionspartei ist, eine bedeutende Wendung für den Antikriegsprotest.

    Kreative Proteste

    Zu den Straßenprotesten kommen noch verschiedene kreative Aktionen hinzu. In einem anonymen Brief wird über vielfältige Aktionen als Antwort auf die Zensur und Bestrafungstaktik des Staates berichtet: Graffitis, Aufschriften auf Kleidung und Masken, Flugblätter, Banner, Sticker und ähnliche Medien sind populär, um trotz Zensur und Demonstrationsverbots zu protestieren. Webseiten wie Meduza.io dokumentieren viele einfallsreiche Protestformen bildlich.

    Die feministische Gruppe „Feminist Anti-War Resistance“ hat dazu aufgerufen, ironisch-satirische „Briefe der Freude“ über den Krieg zu publizieren, allerdings ist auch deren Webseite nicht mehr erreichbar.  Der politische Aktivist Lew Ponomarjow hat auf der Petitionsplattform Change.org bereits 1,5 Millionen Unterstützer:innen für seine Petition „Stop the War with Ukraine“ gefunden. Andere Petitionen mit ähnlichem Inhalt haben ebenfalls hunderttausende Befürworter:innen gefunden.

    Tausende Verhaftungen

    Gegen die Proteste geht der russische Staat mit einer massiven Verhaftungswelle vor: In der Zeit vom 24. Februar bis zum 6. März wurden dabei laut OVD-News insgesamt über 13.000 Menschen bei Antikriegs-Aktionen festgenommen. Allein am vergangenen Wochenende seien 4,366 Menschen in über 55 Städten festgenommen worden. Es ist die höchste Zahl seit Beginn der Proteste.

    Einige Beispiele haben besondere Aufmerksamkeit erfahren:

    • Die frühere Abgeordnete der Stadt Moskau, Yulia Galjamina, wurde wegen eines Online-Posts vom 25. Februar, in dem sie einen Antikriegsprotest ankündigte, zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt.
    • Am 1. März wurden Grundschulkinder festgenommen, die vor der ukrainischen Botschaft in Moskau Blumen niederlegten und Schilder mit „Nein zum Krieg“ (Нет войне!) hielten, wie der BBC berichtet.
    • In Sankt Petersburg wurde am 2. März die Rentnerin Yelena Osipowa (77) für das Halten von Antikriegsschildern festgenommen.

    Verschiedene Medien berichten auch von Gewalt gegen Protestierende: In Moskau wurde eine festgenommene Person auf der Polizeiwache geschlagen, und einem festgenommenen belarussischen Staatsbürger wurde die Abschiebung angedroht. In Sankt Petersburg wurden Menschen, die bei Antikriegsprotesten festgenommen wurden, 24 Stunden lang ohne Nahrung und Wasser festgehalten. Die Polizei erlaubte ihnen auch nicht zu schlafen.

    Der Anwalt Kuschtau Sharipow berichtet, dass er von FSB-Beamten festgenommen und mit Elektroschocks gefoltert wurde. Er musste demnach gestehen, dass er mit dem ukrainischen Geheimdienst zusammenarbeite. Grund dafür waren seine Antikriegskommentare in „sozialen“ Netzwerken.

    Aktivist:innen werden mit Gerichtsverfahren überzogen

    OVD-Info hat Berichte von mindestens 17 Personen erhalten, gegen die im Zusammenhang mit ihrer Teilnahme an Protesten mittlerweile strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet werden. Zu den Vorwürfen gehören: Anwendung von nicht lebensbedrohlicher Gewalt gegen Staatsbeamte, „Hooliganismus“, „Vandalismus“, wissentlich falsche Angaben über terroristische Aktivitäten und „Anstiftung zu extremistischen Aktivitäten“. Diese Vorwürfe wurden in mindestens fünf Städten erhoben: Moskau, Sankt Petersburg, Wladimir, Belgorod und Wladiwostok.

    Die erste Angeklagte eines Strafverfahrens im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten ist Anastasia Lewaschowa. Nach Angaben von Ermittlern warf sie am 24. Februar bei einer Kundgebung in Moskau einen Molotow-Cocktail auf die Polizei. Der Untersuchungsausschuss veröffentlichte lediglich ein Video, in dem sich ein Mädchen, das wegen Androhung von Gewalt gegen die Sicherheitskräfte festgenommen wurde, entschuldigt. Lewaschowa befindet sich derzeit in Haft.

    Sachar Tatuiko, ein 24-jähriger Barkeeper, soll Ermittlern zufolge bei einer Protestaktion am 2. März 2022 in Sankt Petersburg einem Sicherheitsbeamten Pfefferspray ins Gesicht gesprüht haben. Der Untersuchungsausschuss veröffentlichte auch hier lediglich ein Video, in dem ein junger Mann mit retuschiertem Gesicht während eines Gesprächs mit einem Angestellten seine Schuld an der Anwendung von Gewalt gegen einen Regierungsbeamten voll und ganz eingesteht. Auch er befindet sich in Haft.

    Anti-Kriegs-Malereien als „Vandalismus“ bestraft.

    Weitere Repressionsmaßnahmen richten sich gegen Menschen, die Graffiti oder Wandmalereien gegen den Krieg angebracht hätten. Der russische Staat bestraft den sogenannten „Vandalismus“ mit Zuchthaus bis zu drei Jahren oder Verhaftung bis zu drei Monate.

    Am 25. Februar nahmen zwei Bürger einen Mann in der Stadt Belgorod nahe der ukrainischen Grenze fest, als sie sahen, dass er an der Haltestelle des öffentlichen Verkehrs mehrere Antikriegsaufschriften mit Sprühfarbe angebracht hatte. Er beschuldigte Russland in einer der Aufschriften des Faschismus. Der junge Mann wurde zu Boden geschleudert und bis zum Eintreffen der Polizei festgehalten. Am nächsten Tag wurde die Einleitung des Verfahrens bekannt.

    Die drei Männer Denis Sawenko, Iwan Sinjuchin und Anton Ganjuschkin wurden festgenommen, nachdem in der Nacht des 2. März in der Nähe der Lybid-Autobahn Graffiti mit der Aufschrift „NO WAR“ erschienen waren.

    Am 5. März wurden in der 200 km östlich von Moskau gelegenen Stadt Wladimir zudem mehrere lokale Aktivist:innen und Journalist:innen der Publikation „Dowod“ einer entsprechenden Tat beschuldigt und ihre Räumlichkeiten durchsucht.

    Zensur in Russland

    Als Antwort auf die Unzufriedenheit und mögliche Demoralisierung der Armee hat der russische Staat seit dem 27. Februar angefangen, oppositionelle Medien zu zensieren und zu blockieren. Als erstes fiel der Online-Auftritt der Zeitung Gegenwärtige Zeit (Настоящее время) der völligen Zensur zum Opfer. Andere Medien folgten.

    Mittlerweile sind zumindest folgende Plattformen durch den russischen föderalen Kommunikationsdienst (“Roskomnadzor”) blockiert worden: Gegenwärtige Zeit“, Medusa“, BBC“ in Russland, Deutsche Welle“, The New Times“, The Village“, DOXA“, Taiga.info“, Doschd“, Echo Moskau“, TV2“, Radio Swoboda“, Idel.Realii“, Sibir.Realii“, „Sewer.Realii“, Radio Asatlyk“, Zasekin“, Protokol”, Voice of Kuban“, Pskovskaya Gubernia“.

    Das Justizministerium fügte der Liste der Organisationen, die auf russischem Territorium als „unerwünscht“ erklärt wurden, zwei neue Einträge hinzu: Das russische Medienunternehmen Stories, das aktiv über den Krieg in der Ukraine berichtet hat, sowie das in den USA ansässige Journalist Development Network. Auch Ria Nowosti und andere Medien scheinen „technische“ Probleme zu haben.

    Neues Gesetz unterbindet oppositionelle Berichterstattung

    Einige dieser Medien sind auf neue Plattformen umgezogen und senden somit weiterhin unter erschwerten Bedingungen. Jedoch ist oppositionelle Berichterstattung in Russland selbst seit dem 2. März so gut wie unmöglich geworden, da die Staatsduma ein Gesetz erlassen hat, das die „Erzeugung und Verbreitung von Fake News“ über den Verlauf der militärischen „Sonderoperation“ in der Ukraine und die russischen Streitkräfte unter Strafe stellt. Bis zu 15 Jahre Haft drohen bei Zuwiderhandlung. Ob ausschließlich „Fake News“ bestraft werden, ist fragwürdig. Ebenso fragwürdig ist, ob der Staat objektiv in seiner Einschätzung davon ist, was „Fake News“ im Zusammenhang mit dem militärischen Konflikt sind.

    Die amerikanischen Nachrichtenunternehmen CCNund Bloomberg News sowie der britische Sender BBC haben daraufhin ihre Arbeit in Russland pausiert. Auch die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF haben angekündigt, ihre Arbeit in Russland einzustellen.Social Media“-Plattformen wie „Facebook“, „TikTok“ und „Twitter“ werden in Russland eingeschränkt.

    Der Angriff auf die westliche und mehr oder weniger „unabhängige“ Presse in Russland soll sogar Zensur und Strafandrohung überschritten haben: Am Montag soll der britische TV-Sender Sky News in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew beschossen worden sein – angeblich durch russische Truppen. Sowohl ein Reporter als auch ein Kameramann seien von Kugeln getroffen worden, blieben aber dank Schutzwesten unverletzt.

    Auch die EU greift im Gegenzug zu Zensur und Verboten. Zu den staatstragenden russischen Kanälen, die in Deutschland verboten sind, gehören mittlerweile Youtube-Kanäle, Webseiten, Twitter-Kanäle, Apps und Telegram-Kanäle von Russia Today sowie von Sputnik.

    Trotz der vielen Repressionen gegen oppositionellen Journalismus und Zensur gibt es weiterhin nicht-staatliche Quellen aus Russland, die über Proteste und Repression berichten. Dazu gehören OVD News, Rabkor, Левый Фронт, Activatica, Meduza undTayga.info.

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