`

Zeitung für Solidarität und Widerstand

Ein kritischer Nachruf auf den Totengräber der Sowjet-Union

Am 30. August 2022 verstarb der letzte Vorsitzende der „Kommunistischen Partei“ der Sowjet-Union und ehemaliger Präsident, Michail Gorbatschow. Über den Mann der „den Kalten Krieg“ maßgeblich mit beendet haben soll, werden jetzt in den westlichen Medien wieder Lobeshymnen geschwungen. – Ein Kommentar von Phillipp Nazarenko

Michail Sergejewitsch Gorbatschow ist vielen Menschen in Deutschland, zumindest namentlich, auch heute noch ein Begriff. Selbst wer niemals etwas von seinen Amtsvorgängern Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew und ihren politischen Machenschaften gehört hat, weiß zumindest, dass Gorbatschow „der Letzte“ war: der letzte Vorsitzende der KPdSU, der letzte Präsident der Sowjetunion. Der Vorgängerstaat der Russischen Föderation (und 14 anderer Teilrepubliken) gilt im öffentlichen Diskurs der BRD als ein autoritäres, bürokratisches Schreckgespenst.

Gerade jetzt, wo der Interessenskonflikt zwischen imperialistischem Westen und imperialistischem Osten wieder eskaliert, sind Parolen von einer angeblichen Rückkehr der Sowjetunion überall zu hören. Doch Gorbatschow – bekannterweise im eigenen Land verhasst, von der westlichen Politik und den Medien geliebt und hofiert – gilt als großer Reformer des verstaubten Systems der SU in den 1980/90er Jahren. Sein Hauptprojekt, beschrieben mit den beiden hochtrabenden Titeln „Glasnost“ (Transparenz) und „Perestroika“ (Umbau), wird der SU jedoch zum Verhängnis, endet Gorbatschows Amtszeit doch frühzeitig mit der Auflösung der Sowjetunion und einer humanitären Katastrophe in Osteuropa und Zentralasien, wie sie dort seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen wurde.

Die Vorgeschichte

Doch um zu verstehen, was Gorbatschows „Reformprojekt“ genau war und zu was es geführt hat, braucht es einen Blick zurück: Gorbatschow, sein russischer Nachfolger Boris Jelzin und all die anderen kamen nicht aus einem geschichtsfreien Raum. Um genau zu sein, standen sie am konsequenten Ende eines politischen, ökonomischen und historischen Prozesses, den man als die Restauration des Kapitalismus in der SU bezeichnet. Dieser wird meist auf den 20. Parteitag der KPdSU 1956 datiert, auf dem die Clique um Nikita Chruschtschow die Macht übernahm.

Mit diesem Wechsel an der Führungsspitze erfolgte ein qualitativer Wechsel der Macht in der sowjetischen Gesellschaft, direkt gegen Ende des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon in den 30ern hatte eine neue gesellschaftliche Klasse aus Bürokrat:innen in der Partei, der Staatsverwaltung und dem Betriebsmanagement begonnen, sich zu festigen. Doch im Jahr 1956 kann man davon sprechen, dass diese Klasse die bis dahin fungierende Herrschaft der Arbeiter:innen und Bäuer:innen usurpierte.

Im Sinne dieser neuen herrschenden Klasse begannen ein massives Reformprojekt und eine grundlegende Umkehr der (innen- und außen-) politischen Grundsätze der SU. Diese Restauration des Kapitalismus dauerte bis zu Gorbatschows Zeit an (also fast 40 Jahre) und war geprägt von einem Abbau sozialer Errungenschaften, der Liberalisierung wirtschaftlicher Verhältnisse zu Gunsten von Managern und Beamten, von Korruption, Bürokratisierung, wachsender sozialer Ungleichheit und Militarisierung.

Nach außen hin änderte sich der politische Kurs insoweit, dass andere sozialistische Länder (z.B. Kuba oder Vietnam) in die politisch-ökonomische Abhängigkeit gedrängt wurden, derweil die „friedliche Koexistenz“ mit dem kriegslüsternen Imperialismus und der „friedliche Weg zur Revolution“ verkündet und propagiert wurden. Unweigerlich führte dieser Kurs zu einem Zerfall der kommunistischen und Arbeiter:innenbewegung in vielen Teilen der Welt. Als Gorbatschow 1985 an die Macht kam, konnte man schon längst nicht mehr von einer sozialistischen Sowjetunion sprechen.

Die umfassende Arbeitssicherheit und gesundheitliche Versorgung, die nationale Gleichberechtigung und viele weitere Standards der sozialistischen Zeit waren zu dem Zeitpunkt schon längst erodiert. Das bürokratisch-kapitalistische Regime hatte die SU zudem in einen mörderischen und aussichtslosen Krieg in Afghanistan hineingezogen, der jeden Tag mehr Menschenleben kostete. Die Politik Gorbatschows (und Jelzins) war keineswegs ein grundlegendes Abweichen vom vorher eingeschlagenen Kurs. Sie war seine logische Fortsetzung bis zum unausweichlichen Schluss: von der verdeckten zur offenen Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion.

Glasnost und Perestroika – statt Demokratie nur Ausverkauf

Gorbatschow sprach von „sozialistischer Erneuerung“. In Wirklichkeit war das widersprüchliche und von Korruption zerfressene System der späten SU für die meisten Bürokrat:innen nicht mehr tragbar geworden. Die „offene“ Herrschaft der Besitzer:innen von Konzernen und Banken wie im Westen hatte an Attraktivität gewonnen. Unter formal-kommunistischen Vorzeichen lösten das Dream-Team Gorbatschow und Jelzin das Parlament auf.

Die „Kommunistische Partei“ wurde verboten und die Auflösung der Union der „sozialistischen“ Sowjet-Republiken wurde eingeleitet. In den einzelnen Teilrepubliken übernahmen nun mehrheitlich die ehemaligen Führer aus der Partei die Macht im neuen Staate. Wer gestern noch der überzeugteste Kommunist gewesen war (laut eigenen Angaben), der war morgen schon der größte Feind des Kommunismus/Sozialismus. Schon immer gewesen und jetzt erst recht. Von heute auf morgen begann 1991 die Aufteilung der riesigenen Beute der zerfallenden Sowjet-Union.

Bereichern konnten sich jedoch nur die Starken, die ehemaligen Spitzenfunktionär:innen in Staat und Partei, zusammen mit Investor:innen aus dem Westen.

Was bleibt und was tun?

Was bis hierhin klar geworden sein sollte, ist, dass es sich bei Gorbatschow weder um einen „Helden der Demokratie“ – wie der Westen ihn gerne betitelt , noch um einen „Betriebsunfall“ oder Verräter eines grundlegend intakten sozialistischen Systems handelte, wie ihn die Nostalgiker:innen darstellen. Die Ära Gorbatschow war nicht nur eine direkte Folge der, mal rasenden mal schleichenden, kapitalistischen Restauration in der SU. Sie legte auch das Fundament für die jetzige Herrschaft russischer Kapitalist:innen (auch genannt Oligarch:innen) in Russland.

Die humanitäre Katastrophe der 90er Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen SU, die ohne jegliche demokratische Legitimation und unter großem Protest der Bevölkerung aufgelöst wurde, wird hier nicht geleugnet. Das Jahrzehnt der Umstellung auf die „neoliberale“ Variante des Kapitalismus und die beginnende Ausplünderung vieler ehemaliger Sowjetrepubliken durch den Westen über Kredite und Ausverkauf, war ein Verbrechen gegen die Menschheit. Zehntausende starben durch Hunger, behandelbare Krankheiten, Drogenepidemien und neu ausbrechende ethnische Konflikte (z.B. der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan).

Ungefähr 290 Millionen Menschen auf zwei Kontinenten wurden in Armut, Krieg und Elend gestürzt. Doch wer behauptet, dies sei aus dem Nichts gekommen oder der Status quo bis dahin sei perfekt gewesen, der irrt gewaltig. Nur wenn man aus den Fehlern vergangener sozialistischer Versuche lernt, ist ein neuer Anlauf hin zu einer befreiten Gesellschaft möglich. – Gorbatschow ist tot, doch sein Geist lebt im kapitalistischen Russland weiter.

Phillipp Nazarenko
Phillipp Nazarenko
Sächsischer Perspektiveautor seit 2022 mit slawisch-jüdischem Migrationshintergrund. Geopolitik, deutsche Geschichte und der palästinensische Befreiungskampf Schwerpunkte, der Mops das Lieblingstier.

Mehr lesen

Perspektive Online
direkt auf dein Handy!