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    Warum es keinen Sinn macht, die Öffnung von Nord Stream 2 zu fordern

    „Öffnet Nord Stream 2!“. Sucht man dieser Tage nach Protesten gegen die Außen- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, stößt man schnell auf diese Parole.  Was ist davon zu halten? Ein Kommentar von Paul Gerber

    Über die Pipeline Nord Stream 1 flossen jahrelang Unmengen Gas nach Deutschland. Nord Stream 2 sollte die Energiepartnerschaft Deutschland-Russland verstärken. Seit dem Ukraine-Krieg wurde jedoch immer weniger Gas über Nord Stream 1 geliefert, Nord Stream 2 war noch gar nicht in Betrieb.

    Und nun kommen noch die mutmaßlichen Anschläge hinzu, die Lecks in beide Pipelines schlugen. Ob die Pipeline überhaupt auch nur rein technisch geöffnet, beziehungsweise repariert werden kann, muss nach den Sabotage-Aktionen in dieser Woche wohl stark bezweifelt werden. Der Spiegel verweist darauf, dass „Sicherheitskreise“ eine die Chance einer Reparatur als sehr unwahrscheinlich einschätzen.

    Trotzdem: mit der Parole nach der Öffnung von Nord Stream 2 als Hauptforderung konnten in den letzten Wochen an vielen Orten des Landes Tausende auf die Straßen mobilisiert werden.

    In Lubmin an der Ostseeküste, wo die Pipeline Nord Stream 2 endet, demonstrierten beispielsweise vor wenigen Tagen einige tausend Menschen für ihre Öffnung. Politisch wurde das Bild dieser Aktion von faschistischen Organisationen dominiert, die auch erheblich zur Mobilisierung beigetragen hatten.

    Aber auch Sahra Wagenknecht, die nach wie vor eine prominente Vertreterin der Linkspartei ist, erhebt diese Forderung – und steckt von ihrer Partei dafür massive Kritik ein. Sogar Rufe nach ihrem Parteiausschluss werden lauter.

    Fakt ist aber, dass die Argumente dieser vorgeblichen „Kritiker:innen“ der Bundesregierung nicht immer einfach zu entlarven sind. Daher ist es notwendig, sich mit ihnen inhaltlich auseinanderzusetzen.

    Ist eine Öffnung von Nord Stream 2 überhaupt denkbar?

    Die Gas-Pipeline Nord Stream 2 wurde bekanntermaßen nie in Betrieb genommen. Nachdem die USA zunächst mit Sanktionen und Sanktionsandrohungen gegen am Projekt beteiligte Unternehmen den Bau der Pipeline nach Kräften hinauszögerten, setzte sich im letzten Herbst auch in Deutschland vorerst der Teil des Staatsapparats durch, der einer Inbetriebnahme kritisch gegenüberstand. Im November wurde zunächst die für die Inbetriebnahme notwendige Lizenz von der Bundesnetzagentur nicht erteilt.

    Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine bemühte sich die Bundesregierung, diese Maßnahme als vorsorgliche Strafmaßnahme gegen Russland zu interpretieren, da der Krieg abzusehen gewesen sei.

    Doch ab September führt auch die Pipeline Nord Stream 1 kein Gas mehr nach Europa. Es ist hierbei recht offensichtlich, dass die russische Seite, verkörpert durch den Staatskonzern Gazprom, mit dem Verweis auf nicht richtig gewartete Turbinen einen Vorwand gesucht hat, um die Gaslieferung einzustellen, ohne formell die bestehenden Verträge aufkündigen zu müssen.

    Es handelt sich hierbei ganz klar um eine Reaktion auf die Sanktionsmaßnahmen, die der Westen gegen Russland verhängt hat. So wie die NATO den Krieg gegen Russland mit Hilfe der ukrainischen Bevölkerung als Bauernopfer auf militärischem, politischem und eben auch wirtschaftlichem Gebiet führt, führt auch Russland auf all diesen Ebenen Krieg mit dem Westen.

    Ganz abgesehen davon, dass der Betrieb dieser Pipeline diese Woche durch gezielte Sabotageakte auch praktisch unmöglich gemacht wurde, zeigt die aktuelle Situation also, dass überhaupt nicht als gegeben angenommen werden kann, dass wieder russisches Gas fließen würde, sobald die Bundesregierung zum Beispiel die Lizenz für den Betrieb von Nord Stream 2 erteilen würde.

    Klar ist, dass dies ein Triumph für die russische Regierung wäre und sie dieses offene Eingeständnis der Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas früher oder später als Druckmittel im Kriegsverlauf nutzen würde, zum Beispiel, um unliebsame Waffenlieferungen an die Ukraine oder Ähnliches abzuwenden.

    Die deutsche Bundesregierung jedenfalls hat diese Konsequenz ganz bewusst in Kauf genommen. In der Tat wirkt sich die Einstellung der russischen Gaslieferungen nach Deutschland so aus, dass unter anderem dadurch der Gaspreis explodiert ist.

    Allerdings nicht nur wegen der Verknappung des Angebots, sondern vor allem auch, weil die Bundesregierung reagiert hat, indem sie überall auf der Welt Flüssiggas zu (fast) jedem x-beliebigen Kurs aufgekauft hat, was natürlich den Marktpreis entsprechend in die Höhe trieb.

    Übergeordnetes Ziel war es hier offenbar, die Versorgung der eigenen Industrie aufrechtzuerhalten, koste es was es wolle. Die Zeche hierfür zahlen wir Arbeiter:innen nun doppelt: Zum einen durch unsere eigene Nebenkosten-Abrechnung, zum anderen, weil der Staat auf diese oder jene Weise für die Unternehmen in die Bresche springen wird und die explodierenden Gaspreise über steuerfinanzierte Subventionen auf die Arbeiter:innenklasse abwälzt.

    Die Tatsache, dass Russland seine Gaslieferungen an Deutschland eingestellt hat, ist also einer der Eskalationsschritte eines Wirtschaftskriegs, den beide Länder spätestens seit dem Überfall auf die Ukraine offen miteinander austragen. Es ist daher von vornherein unrealistisch, getrennt vom restlichen Kriegsverlauf überhaupt über die Wiederöffnung dieser Pipeline zu spekulieren.

    Wo liegen die Ursachen für die Preisexplosion?

    Die Forderung nach der Öffnung von Nord Stream 2 derart in den Vordergrund zu stellen, hat aus Sicht der hauptsächlich rechten Kräfte, die sie erheben, eine durchschaubare Funktion: Sie versuchen, die gesamte enorm angespannte Situation, in der sich die Arbeiter:innenklasse in Deutschland momentan befindet, auf ein einziges Problem, auf eine einzige politische Entscheidung zurückzuführen.

    Dieses Vorgehen ist typisch für jede politische Kraft – ob Faschist:in oder Sozialdemokrat:in (Wagenknecht!) -, die nicht bereit ist, grundlegend das kapitalistische System in Frage zu stellen. Das strategische Ziel dieser Kräfte ist, bestimmte politische Kräfte von der Macht zu verdrängen, nicht aber tatsächlich die Ursachen der aktuellen Krise zu enthüllen und zu bekämpfen.

    Die momentanen Preisexplosionen sind nicht einzig und allein durch das Ausbleiben russischen Gases zu begründen, sie sind noch nicht einmal ausschließlich durch die Entwicklung des Gaspreises alleine zu erklären. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wirkte als externer Schock auf den Weltmarkt und trieb die Preise zahlreicher Produkte neben dem Gas in nie gekannte Höhen.

    Wichtig ist hierbei zu betonen, dass durch Kriegs- oder Wirtschaftskriegsmaßnahmen tatsächlich der Warenfluss teilweise eingeschränkt wurde. Als Beispiel kann hier das medial inszenierte Drama um die Getreidefrachter gelten, die erst nach langem Hin und Her die ukrainische Küste verlassen konnten.

    Die wirkliche Ursache dafür, dass die Brotpreise sich in vielen Ländern Westasiens verdoppelt oder vervielfacht haben, liegt aber nicht in erster Linie darin, dass es einfach an Getreide fehlt. Ursächlich hierfür ist vielmehr, dass unter den modernen kapitalistischen Verhältnissen – bei jedem Krieg, bei jeder Krise, jeder Naturkatastrophe und jedem schweren Unfall – sofort mit dem daraus entstehenden potentiellen Mangel spekuliert wird.

    So sprang der Getreidepreis kurz nach Kriegsausbruch in der Ukraine auf etwa das Doppelte des Vorkriegsniveaus, mittlerweile hat er sich wieder einigermaßen normalisiert. Die Preise für Lebensmittel in den Supermärkten und Bäckereien jedoch zeigen keine Anzeichen für Entspannung, wie wir alle täglich erleben.

    Getreidepreise auf den globalen Rohstoffmärkten sinken – die Lebensmittelpreise steigen weiter

    Der Versuch von Investor:innen, für ihre Anleger:innen Maximalprofite zu erwirtschaften, treibt sie stetig dazu, unabhängig vom tatsächlichen Bedarf und dem tatsächlichen Vorhandensein von Waren auf deren steigende Preise zu spekulieren, um sie möglichst gewinnbringend zu verkaufen.

    Zuletzt konnte dieser Effekt beobachtet werden, als die vermutliche Sabotage der Pipelines Nord Stream 1 und 2 den Gaspreis in Europa, der sich gerade leicht entspannt hatte, erneut um etwa 16% auf knapp 200 Euro pro Megawattstunde in die Höhe schnellen ließ. Bemerkenswert ist hierbei, dass weder durch die eine, noch durch die andere Pipeline zu dem Zeitpunkt, als die Lecks entdeckt wurden, Gas nach Westeuropa floss.

    Es ist sicherlich richtig, dass die Bereitstellung von Gas in Deutschland über ein Pipeline-System kostengünstiger zu bewerkstelligen ist, als über den Import von Flüssiggas über Gastanker aus allen Regionen der Welt. Eine Vervielfachung des Gaspreises um etwa das Zehnfache gegenüber dem Niveau bis zum Sommer 2021, wie wir sie momentan erleben, ist aber dadurch nicht erklärbar.

    Wohlgemerkt ging der Gaspreis nicht erst mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dem sukzessiven Einstellen russischer Gaslieferungen an Deutschland durch die Decke. Schon im Oktober 2021 schnellte der Preis kurzzeitig auf gut 180 Euro pro Megawattstunde hoch. Ein Wert, der relativ knapp unter dem momentanen Preisniveau liegt.

    Mit den explodierenden Preisen zahlen wir also momentan vor allem die massiven Extra-Profite, die die Konzerne in den entsprechenden Branchen einstreichen, weil eine enorm hohe Nachfrage bei gleichzeitig zumindest scheinbar verknapptem Angebot besteht. Dabei ist es keinesfalls so, dass nur westliche Konzerne profitieren. Auch Russland hat im August prognostiziert, dass die Preise für seine Gasexporte in diesem Jahr gegenüber 2021 etwa 140% höher sein würden als zuvor.

    In der EU liegen die Großhandelspreise für Gas momentan hingegen momentan „nur“ beim Doppelten des Wertes von vor genau einem Jahr.

    Was im Kapitalismus erreichbar ist und was nicht

    Sicherlich ist es richtig, nicht nur zu fordern, dass Deutschland aufhört, seine eigenen Interessen in der Ukraine zu verfolgen, in dem es den ukrainischen Staat mit Milliarden Euro und modernen Waffen hochrüstet. Ebenso ist es richtig, gegen die Bemühungen der Bundeswehr, selbst „kriegsfähig“ zu werden, zu demonstrieren.

    Wer dem zustimmt, der kann konsequenterweise auch nur das Ende aller Sanktionen fordern, denn der Wirtschaftskrieg ist nicht vom militärischen Krieg zu trennen. Die Sanktionen gegen Russland und die Entflechtung der Handelsbeziehungen mit diesem Land stellen vielmehr konkrete Schritte dar, die eigene Wirtschaft auf eine direkte Konfrontation mit der Großmacht im Osten vorzubereiten. Zwei Weltkriege haben uns gezeigt, was das bedeuten würde.

    Die Öffnung von Nord Stream 2 jedoch, selbst wenn sich die Bundesregierung mit Russland darauf einigen könnte, würde keinesfalls zu einer schnellen Entspannung der aktuellen Situation führen. Auch wenn der Gaspreis sehr wichtig ist und momentan beispielsweise auch den Strompreis nach oben treibt, sind nicht alle Teuerungen daraus abzuleiten.

    Auch in anderen Branchen bemühen sich die Kapitalist:innen nach wie vor, ihre Profite zu maximieren und in unsicheren Zeiten so viel Geld wie möglich zu erwirtschaften. Es führt also in eine falsche Richtung zu behaupten, dass die gesamte momentane Misere von der falschen Politik der Bundesregierung hervorgerufen wäre.

    Weder Sahra Wagenknecht noch die AfD wollen eine unangenehme Wahrheit offen aussprechen: Im Kapitalismus werden wir verbrecherische Kriege genauso wenig verhindern können wie die ständigen Versuche, uns mit Preissteigerungen und lächerlich niedrigen „Lohnerhöhungen“ unseren ohnehin spärlichen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand streitig zu machen.

    Ganz abgesehen davon, dass wohl bezweifelt werden darf, ob nach den Sabotageakten in dieser Woche überhaupt noch jemand bereit wäre, das Risiko einzugehen, die Pipelines zu betreiben, ist die Forderung, jetzt Nord Stream 2 zu öffnen, wenig sinnvoll. Sie schürt massiv Illusionen und nimmt andererseits die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aus der Schussbahn.

    Ursächlich für unsere rapide Verarmung ist nicht eine Pipeline, durch die kein Gas mehr fließt, sondern die Tatsache, dass wir in einer kapitalistischen Welt leben. Solange das so ist, wird die Regierung dieses Landes wirtschaftliche und militärische Kriege mit anderen Ländern führen, um die eigenen Interessen durchzusetzen, werden Unternehmen mit Monopolstellungen eben diese kriegerischen Auseinandersetzungen stets ausnutzen, um noch höhere Profitmargen für sich durchzusetzen, und wir werden im übertragenen oder direkten Sinne das Kanonenfutter bleiben, das in diesen (Wirtschafts-)Kriegen verfeuert wird.

    • Paul Gerber schreibt von Anfang bei Perspektive mit. Perspektive bietet ihm die Möglichkeit, dem Propagandafeuerwerk der herrschenden Klasse in diesem Land vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse aus etwas entgegenzusetzen. Lebensmotto: "Ich suche nicht nach Fehlern, sondern nach Lösungen." (Henry Ford)

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