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    Mindestlohnerhöhung: Wie viel Geld fehlt uns wirklich?

    Der gesetzliche Mindestlohn steigt im Oktober auf 12 Euro. Gegenüber Januar bedeutet das eine Erhöhung um 22 Prozent. Doch reicht das wirklich, um die Verarmung von Arbeiter:innen im Niedriglohnbereich angesichts der Preisexplosion abzuwehren? – Ein Kommentar von Thomas Stark

    Die SPD feiert es als großen Erfolg: Der gesetzliche Mindestlohn steigt am 1. Oktober auf 12 Euro pro Stunde. Bereits zum 1. Juli hatte es einen Anstieg auf 10,45 Euro gegeben, von zuvor 9,82 Euro. Damit beträgt die Erhöhung zwischen Januar und Oktober gut 22 Prozent.

    Das klingt viel – selbst bei einer offiziellen Teuerungsrate von 7,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr, wie sie das Statistische Bundesamt für August gemeldet hat. Also alles nicht so schlimm mit den steigenden Preisen? Geht es einem Fünftel der deutschen Arbeiter:innen bald sogar besser als vorher? Denn so hoch wird der Anteil der Beschäftigten geschätzt, die von der Verbesserung betroffen sind.

    Die Erhöhung ist in keinem Fall ausreichend, denn die Verarmung von Arbeiter:innen in schlecht bezahlten und Teilzeitjobs wird auch durch die Mindestlohnerhöhung nicht ausgeglichen. Das zeigt ein kritischer Blick auf die Zahlen:

    1. Die offizielle Teuerungsrate von knapp 8 Prozent ist nur ein statistischer Wert, der die Preisentwicklung eines ausgedachten Korbs von Waren misst. Diese Zahl gibt nicht an, wie stark die Lebenshaltungskosten von Arbeiter:innenfamilien tatsächlich gestiegen sind. So schätzt Marcel Fratzscher, der Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW, die tatsächliche Teuerung für arme Menschen auf das Drei- bis Vierfache der offiziellen Inflation. Dies wären also 24 bis 32 Prozent – und damit deutlich mehr als die Mindestlohnsteigerung. Bestimmte Warengruppen wie Haushaltsenergie (+ 47%) und Nahrungsmittel (+ 17%) verteuern sich eben viel stärker als ein ausgedachter Warenkorb. Und gerade diese Teuerungen sind besonders schmerzhaft, wenn das Geld ohnehin nur knapp für den Monat reicht.
    2. Die tatsächliche Verarmung von Arbeiter:innen im Niedriglohnsektor wird sichtbar, wenn man lange Zeiträume betrachtet. Zwischen 2015 und Januar 2022 ist der Mindestlohn gerade einmal um 16 Prozent gestiegen. Die offizielle Inflation lag in diesem Zeitraum bei gut 9 Prozent. Gehen wir davon aus, dass die tatsächlich gestiegenen Lebenshaltungskosten drei- bis viermal höher lagen, hat die Verarmung also schon in den zurückliegenden Jahren zugeschlagen. Vor allem konnten die Arbeiter:innen, die wenig verdienen, in den vergangenen Jahren kein Geld sparen, auf das sie jetzt zurückgreifen könnten, um ihre Energierechnungen zu bezahlen. Das Wirtschaftsforschungsinstitut schätzt die Größe dieser Gruppe auf 40% der Bevölkerung.
    3. Es gibt immer noch zahlreiche Arbeiter:innen, die vom Mindestlohn ausgenommen sind, darunter Jugendliche unter 18 Jahren ohne Berufsausbildung, Auszubildende, Langzeitarbeitslose während der ersten sechs Monate im Job und Praktikant:innen und Menschen, die in sogenannten Behindertenwerkstätten arbeiten. Zudem durfte der Mindestlohn bis 2017 noch durch Tarifverträge unterschritten werden.

    Fazit: Wer im Niedriglohnsektor arbeitet, ist von einer deutlich höheren Teuerungsrate betroffen, kann diese mit dem eigenen Einkommen nicht ausgleichen, keine Rücklagen bilden und gerät damit in der aktuellen Krise in massive Existenznot.

    Dieses Problem wird durch die Mindestlohnerhöhung nicht im Ansatz gelöst. Auch nach der Mindestlohnerhöhung werden Millionen Menschen weiter in Armut leben müssen. Gerade im Niedriglohnbereich werden wir jetzt also für deutlich höhere Lohnsteigerungen kämpfen müssen!

    • Perspektive-Autor seit 2017. Schreibt vorwiegend über ökonomische und geopolitische Fragen. Lebt und arbeitet in Köln.

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