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Donnerstag, März 28, 2024
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    „Auch innenpolitisch dauert der repressive Kampf gegen Kurd:innen und die kurdische Freiheitsbewegung seit Jahrzehnten an“

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    Der türkische Angriffskrieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung allgemein und gegen Rojava (Westkurdistan) und Südkurdistan (im Irak) im Besonderen sind in den bürgerlichen Medien kaum erwähnt. – Perspektive Online hat mit Carla von „Defend Kurdistan“ gesprochen.

    Perspektive: Könntest du uns bitte etwas mehr über die Hintergründe und die Ziele eurer aktuellen Kampagne zum türkischen Angriffskrieg erzählen?

    Die Kampagne “Wir sehen eure Verbrechen – Stoppt den Einsatz chemischer Waffen” wurde von „Defend Kurdistan“ ins Leben gerufen. Ziel der Kampagne ist, weltweit koordinierte Aktionstage durchzuführen, die auf die seit Monaten andauernden Chemiewaffenangriffe der türkischen Armee in Kurdistan aufmerksam machen und sie durch gesellschaftlichen Druck zu stoppen.

    Seit dem 19. November 2022 ist erneut eine grausame Angriffswelle des türkischen Staats auf große Teile der befreiten Gebiete Nord- und Ostsyriens und die Berge Südkurdistans gestartet, und die Vorbereitung auf eine Bodeninvasion laufen. Auf diese Angriffe gegen die Freiheitsbewegung in Kurdistan, die Guerilla und Zivil-Infrastruktur müssen emanzipatorische Bewegungen weltweit reagieren, um die Quelle unserer Hoffnung zu schützen.

    Um die intensivierten Angriffe des Erdogan-Regimes auf Kurdistan zu stoppen, müssen auch wir unseren Protest intensivieren und in koordiniertem Widerstand ein gemeinsames Momentum von uns Internationalist:innen schaffen. Dazu wurden die Aktionstage ausgerufen – denn es braucht weltweite Proteste, um den Krieg in die Öffentlichkeit zu bringen, um das Schweigen zu brechen und Druck auf die westlichen Regierungen und Institutionen aufzubauen, damit diese ihre Verantwortung gegenüber den Kriegsverbrechen des türkischen Staates übernehmen.

    Die Aktionen haben sich dabei über ganz Europa ausgebreitet: In Griechenland, Bulgarien, dem Baskenland, Katalonien, Schottland, Valencia und Österreich gab es Aktionen gegen türkische Vertretungen. In Deutschland wurden vor allem Grünen- und SPD-Büros besetzt, in Frankreich gab es Demos, in Zürich wurden Blockaden errichtet und in England gab es Mahnwachen.

    Außerdem gab es Solidaritätsbotschaften aus Chiapas, Brasilien, Indien, Kenia und West Papua. Mit den Aktionstagen wurde die Solidarität mit der Freiheitsbewegung Kurdistans weltweit erfolgreich verbreitet. Auch ist jede Aktion, jede Solidaritätsbotschaft, jeder Widerstand eine Stärkung für unsere Freund:innen, die in den Bergen kämpfen.

    Nun ist die weitere Herausforderung, den Druck aufrecht zu halten und zu intensivieren und uns neue, kreative Aktionsformen zu überlegen. Parallel zu den konkreten Solidaritätsaktionen wollen wir auch die Ideologie der kurdischen Freiheitsbewegung verbreiten, außerdem den Vorschlag, den Demokratischen Konföderalismus weltweit aufzubauen.

    Perspektive: Speziell zur Besetzung des SPD-Parteibüros in Leipzig am 02.12.22: Könnt ihr bitte genauer begründen, warum gerade ein Büro der den Krieg unterstützenden SPD besetzt wurde?

    Ja., am 2. Dezember 2022 haben wir für zwei Stunden den Hauptsitz der SPD in Leipzig besetzt. In diesem Büro arbeitet unter anderem die Bundestagsabgeordnete Nadja Sthamer, die auf ihrer Website schreibt, dass die drei Grundwerte für sie und ihre Politik „Feminismus, Internationalismus und Demokratischer Sozialismus“ seien. Indem wir sie als Bundestagsabgeordnete, die sich mit diesen Werten ausschmückt, mit der Mitverantwortung der SPD am türkischen Angriffskrieg konfrontierten, wollten wir eine öffentliche Positionierung erzielen.

    Bei der Besetzung war Frau Sthamer selbst nicht anwesend. Nach längerer Diskussion und Abwehrhaltung durch ihre Mitarbeiter*innen konnten wir irgendwann ein Telefonat mit ihr führen, haben unsere Forderungen an sie gestellt und mit ihr über ihre Handlungsmöglichkeiten gesprochen. Wir haben gefordert, dass sie sich in ihrer Partei öffentlich für eine Einrichtung einer #Noflyzone über Nordostsyrien bemüht, dafür sorgt, dass ein Antrag bei der OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) gestellt wird, um damit eine unabhängige Delegation zur Untersuchung der Chemiewaffenangriffe zu veranlassen. Auch haben wir einen Stopp der Waffenlieferung an die Türkei und den Iran verlangt. Sie hat uns zugesichert, Schritte zu unternehmen, um die Forderungen zu erfüllen.
    Danach sahen wir keinen Anlass mehr, unsere Zeit mit ihren Mitarbeiter*innen im Büro zu verbringen und haben die Besetzung aufgelöst – kurz bevor die Polizei eintraf.

    Druck auf die Parteien auszuüben und öffentlich ihre Doppelmoral anzukreiden, ist nur einer von mehreren Strängen, die wir verfolgen, um die Freiheitsbewegung in Kurdistan zu verteidigen. Ziel ist, den Parteien und der Öffentlichkeit ihre Mitverantwortung am Krieg vor Augen zu führen und sie dazu zu bringen, klare Worte und Handlungen gegenüber dem türkischen Staat zu finden, um den Angriffskrieg zu stoppen. Dabei haben wir keine große Hoffnung und Erwartung an etablierte Regierungsparteien, und uns ist sehr bewusst, dass der Angriff auf Rojava durchaus auch in ihrem Interesse liegt. Schließlich geht es um eine Bewegung, die den Kapitalismus und das Patriarchat endgültig zerschlagen möchte und klare Alternativen für unsere Gesellschaftsordnung vorschlägt. Diese basieren auf der Frauenbefreiung, der Ökologie und der Etablierung eines Demokratischen Konföderalismus.

    Dennoch sehen wir, dass ein alternatives System nicht von heute auf morgen aufgebaut wird, und dass Parteien gegenwärtig eine real existierende Macht und sehr wohl Handlungsmöglichkeiten besitzen, um diesem faschistischen Angriff etwas entgegen zu setzen.

    Perspektive: Nun eher allgemein gefragt: worin seht ihr die Rolle der aktuellen Regierung der BRD im Konflikt in Kurdistan?

    Die BRD trägt aufgrund ihrer starken Abhängigkeit und Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat – schon seit vielen Jahren – einen großen Teil zu dem Konflikt in Kurdistan bei. Die deutsche Waffenindustrie ist ein großer Profiteur des türkischen Kriegs gegen Kurdistan. Die Türkei besitzt die zweitgrößte NATO-Armee und wird von einer nicht unerheblichen Menge deutscher Waffen versorgt.

    Auch in der kürzlich gestarteten Angriffswelle kann man wieder die Verstrickungen der BRD mit dem türkischen Staat beobachten: So war die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) – zwei Tage nach dem Start der Offensive – in der Türkei zu Besuch. Dort traf sie sich mit dem Innenminister der Türkei, Süleyman Soylu (AKP). Sie bat ihn höflich um Mäßigung bei den Angriffen, sprach ihm aber anonsten die Unterstützung der BRD bei dem ‘Kampf gegen den Terrorismus’ zu.

    Der Angriffskrieg gegen die Befreiungsbewegung und die zivile Infrastruktur in den befreiten Gebieten wird von der Türkei als `Kampf gegen den Terrorismus’ bezeichnet. Sie legitimieren den Angriff als eine Reaktion auf den Anschlag am 13. November in Istanbul, den die Türkei weiterhin versucht, der PKK in die Schuhe zu schieben.

    Die Geschichte, die die türkischen Staatsmedien zu der angeblichen Attentäterin erzählen, weist zahlreiche Ungereimtheiten auf, und der Zusammenhang mit der PKK ist widerlegt. Es gibt sogar Hinweise – beispielsweise Telefon-Daten der angeblichen Attentäterin von Gesprächen mit einem MHP-Politiker vom Abend vor dem Anschlag -, die auf eine Verstrickung mit der Regierung hinweisen. Das Narrativ der türkischen Medien wird allerdings unkommentiert von der deutschen Medienlandschaft übernommen.

    Auch innenpolitisch dauert der repressive Kampf gegen Kurd:innen und die kurdische Freiheitsbewegung seit Jahrzehnten an. Die Festnahme einer jungen kurdischen Aktivistin, die brutalen Hausdurchsuchungen bei kurdischen Familien im Saarland, sowie neue Maßnahmen wie der Entzug des Reisepasses für alle, die sich in irgendeiner Form „verdächtig“ gemacht haben sollen, sind dabei nur einige Beispiele der letzten Monate.

    Perspektive: Gibt es konkrete Pläne von euch, die kurdische bzw. kurdistan-solidarische Bewegung in der BRD mit anderen internationalistischen Bewegungen zusammenzuführen, z.B. mit einem Bezug zum Iran oder Kurdistan? Und seht ihr die Notwendigkeit für eure Bewegung, eine Verbindung zu der Antikrisen- und Antikriegsbewegung in der BRD aufzubauen?

    Als Internationalist:innen begreifen wir Befreiungskämpfe weltweit als stets miteinander verbunden. Die kurdische Befreiungsbewegung ist historisch und aktuell immer darum bemüht, ihren Kampf mit Bewegungen weltweit zu verbinden. Es ist wichtig, dass wir in unseren Aktionen stets ein ganzheitliches Verständnis imperialer Konflikte transportieren und die Notwendigkeit eines internationalistischen Kampfes als Antwort darauf bieten. Vor allem die Solidaritätsbewegung zum iranischen Aufstand ist mit der kurdischen Befreiungsbewegung eng verbunden, da die aktuellen Aufstände durch den Mord an einer jungen kurdischen Frau, Jina Amini, ausgelöst wurden.
    Sie werden an vielen Stellen von im Iran bzw. Ostkurdistan lebenden Kurd:innen mit voran gebracht.

    Ebenfalls besteht zwischen dem palästinensischen Befreiungskampf und dem der kurdischen Freiheitsbewegung schon eine langjährige enge Beziehung, die gerne mal von vielen aus der Deutschen Linken ausgeblendet wird: Zum Beispiel 1980, als in der Türkei ein Militärputsch stattfand, haben sich viele Menschen aus der kurdischen Befreiungsbewegung nach Syrien oder in den Libanon zurückgezogen. Im Libanon wurden dann spätere Guerilla-Kämpfer:innen von palästinensischen Freiheitskämpfer:innen ausgebildet. Und auch, als Israel 1982 den Libanon angriff, haben die kurdischen Kämpfer:innen Seite an Seite mit ihren palästinensischen Freund:innen gekämpft.

    Es besteht also schon eine sehr lange Verbindung zwischen den beiden Freiheitsbewegungen, dies vor dem Hintergrund, dass der israelische und der türkische Staat enge wirtschaftliche und militärische Beziehungen pflegen. Dennoch sind die Beziehungen zwischen unseren Bewegungen wieder schwächer geworden und es ist sehr wichtig, sie wieder enger zusammen zu denken.
    Mit der Antikriegsbewegung in Deutschland besteht bereits seit Jahren eine Zusammenarbeit. Ein aktuelles Beispiel dafür sind die jährlich stattfindenden Aktionen von „Rheinmetall Entwaffnen“, bei denen auch die kurdische Freiheitsbewegung vertreten ist.

    Revolutionen wie in Rojava oder Chiapas sind eine hoffnungsgebende Kraft für freiheitssuchende Menschen weltweit – und diese gilt es zu verteidigen! Als in der BRD lebende Internationalist:innen müssen wir uns der Verantwortung bewusst sein, dass wir eben im ‘Herzen der Bestie’ leben und deshalb einen konsequenten Kampf gegen die herrschende Klasse führen müssen.

    Perspektive: Vielen Dank für das Interview! Jin Jîyan Azadî!

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