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Samstag, April 20, 2024
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    “Chancenaufenthalt” – Bleiberecht für alle?

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    Die Ampel-Regierung kündigte mit Beginn der neuen Legislaturperiode einen „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“ an. Im Zuge dessen ist auch ein neues Gesetz in Kraft getreten, der sogenannte Chancenaufenthalt nach § 104c Aufenthaltsgesetz. Gibt dieses Gesetz Migrant:innen wirklich eine „Chance“? – Ein Kommentar von Alexandra Baer.

    Nach der Bundestagswahl 2021 hatten die Ampelparteien in ihrem Koalitionsvertrag einen „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“ festgelegt. Ende 2022 beschloss der Bundestag dann in diesem Sinne das Chancenaufenthaltsgesetz, das am 1. Januar 2023 in Kraft trat.

    Der Chancenaufenthalt ist ein Aufenthaltstitel, der geflüchteten Menschen die Möglichkeit geben soll, in Deutschland zu leben, ohne die Abschiebung in ihr Heimatland zu befürchten. Er gilt für solche Geflüchtete, die sich seit mehr als fünf Jahren in Deutschland aufhalten und keine Straftaten begangen haben. In Deutschland sind das (Stand 01.01.2023) rund 136.000 Menschen.

    Das Chancenaufenthaltsrecht stellt insbesondere für Menschen, die aufgrund eines negativen Asylverfahrens zur Ausreise verpflichtet und aktiv von Abschiebungen bedroht sind, eine Perspektive dar. Rund 200.000 Menschen leben in Deutschland mit einer solchen “Duldung”.

    Insbesondere für geduldete Geflüchtete, die ihren Reisepass nicht an die Ausländerbehörde abgegeben haben und deshalb eine Reihe von Schikanen durch sie erdulden müssen, ist es oft besonders schwer, ein Aufenthaltsrecht zu erlangen. Die Einführung eines Aufenthaltstitels, der grundsätzlich alle geduldeten Geflüchteten umfasst, die eine längere Zeit in Deutschland leben, ist deshalb erst einmal zu begrüßen.

    Bleiberecht gegen Auflagen und harte Fristenregelung

    Jedoch ist der Chancenaufenthalt auf 18 Monate begrenzt und führt nur dann zu einem Anschluss-Aufenthaltstitel, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden: So müssen eine Arbeit, Reisepass und Deutsch-Kenntnisse vorgelegt werden.

    Das mag sich auf den ersten Blick zwar machbar anhören, birgt jedoch im Einzelfall einige Probleme:

    • So ist nicht klar, ob auch erwerbsunfähige oder alleinerziehende Personen, die nicht arbeiten können, eine Arbeit nachweisen müssen.

    • Auch die Passbeschaffung gestaltet sich für Geflüchtete häufig schwierig.

    • Lange Wartezeiten bei Integrations- und Sprachkursen, mangelnde Gewährleistung der Kinderbetreuung und wenig Lerngelegenheiten im Alltag durch Abschottung in Asylbewerber:innenheimen führen zu Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache.

    Kann eine der Voraussetzung nicht erfüllt werden, rutscht die Person nach anderthalb Jahren wieder zurück in die Duldung und muss eine Abschiebung in ihr Herkunftsland befürchten.

    Der Gesetzgeber hat sich beim Chancenaufenthalt außerdem für eine harte Fristenregelung entschieden: Nur Menschen, die bis zum 31. Oktober 2017 eingereist sind, können den Chancenaufenthalt erhalten. Diese Möglichkeit steht Personen nicht offen, die bspw. am 01. November 2017 eingereist sind. Eine solche Differenzierung ist willkürlich und nur so zu erklären, dass neu Zugereiste diese „Chancen“ eben nicht erhalten sollen.

    Ausschluss selbst bei leichtesten Straftaten

    Ausgeschlossen vom Chancenaufenthalt sind zudem Menschen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat von mehr als 50 Tagessätzen verurteilt wurden (bei „ausländerspezifischen“ Straftaten wie illegaler Einreise sind es 90 Tagessätze). Der Gesetzgeber verfolgt dabei laut eigenen Angaben das Ziel, Straftäter:innen „konsequent abzuschieben“.

    Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund problematisch, dass migrantische Personen besonders oft von Kriminalisierung und „racial profiling“ durch die Polizei betroffen und auch leichte Delikte wie das Erschleichen von Leistungen wie z.B. beim „Schwarzfahren“ zu einem Ausschluss des Aufenthaltsrechts führen können. Ein Pflichtverteidiger wird zudem erst ab einer bestimmten Schwere der Straftat vom Staat gestellt, sodass viele Menschen vor Gericht ohne Verteidigung verurteilt werden.

    Wie Armut ins Gefängnis führt

    Die Versagung von Aufenthaltsmöglichkeiten wegen einer Straftat stellt sich wie eine zweite „Strafe“ dar. Oft strebt der Staat zudem ein sogenanntes „Ausweisungsverfahren“ an, sodass selbst Menschen, die bereits ein Bleiberecht haben, dieses verlieren könnten. Dass die Strafe bezahlt bzw. abgesessen wurde und der/die Täter:in ein Recht auf Resozialisierung hat, wird dabei vergessen.

    Kein Bleiberecht für alle, sondern Mittel zur Ausbeutung

    Der Chancenaufenthalt reiht sich ein in die Politik des deutschen Gesetzgebers, welche die Überausbeutung von migrantischen Menschen ermöglicht. Durch unsicheren Aufenthaltsstatus werden Menschen in Arbeitsverhältnisse mit niedrigeren Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen gezwungen. Wenn der eigene Aufenthalt an den aktuellen Job gekoppelt ist, ist es unwahrscheinlich, dass solche geflüchtete Arbeiter:innen gegen rassistische Behandlung, Überausbeutung und Lohndrückerei aufstehen würden. Das europäische Migrationsregime schafft und erhält sich dadurch einen Niedriglohnsektor.

    Die EU fährt dabei zweigleisig. So setzt sie einerseits auf Abschottung und ein repressives Grenzregime. Andererseits versucht sie, Geflüchtete die „nun mal da sind“, mit integrativen Maßnahmen in den – verzweifelt nach Fachkräften suchenden – Arbeitsmarkt einzubinden. Das kehrt sich aber eben sofort wieder in Repression um, sobald sich die Betroffenen nicht als passende Arbeitskräfte erweisen. Begleitet wird dies von rassistischer Abwertung und erschwertem Zugang zu Gesundheit, Wohnraum und Bildung.

    Migrationspläne der Ampel: Arbeitskräfte für das deutsche Kapital

    Trotz der Hoffnung, dass der Chancenaufenthalt rund 136.000 Menschen in teils sehr prekärer Lebenslage eine aufenthaltsrechtliche Perspektive gibt, muss die Regelung damit im Gesamtzusammenhang einer kapitalistischen Migrationspolitik gesehen werden:

    Der Chancenaufenthalt stellt dabei nur eine weitere Maßnahme in der ausgrenzenden europäischen Migrationspolitik dar, die migrantische Menschen in billige Arbeitskräfte verwandelt. Der Titel bedeutet nämlich beileibe kein Bleiberecht für alle, sondern ist eine Maßnahme ganz im Interesse der deutschen Kapitalist:innen, ihre Ausbeutung aufrechtzuerhalten und auszuweiten.

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