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Zeitung für Solidarität und Widerstand

Erdogan gegen Israel? – Wie das Vorgehen des türkischen Staats einzuschätzen ist

Der türkische Präsident Erdogan fällt durch große Reden gegen den israelischen Staat und scheinbare Solidarität mit dem palästinensischen Volk auf. Wie sieht die Realität hinter der großen Rhetorik aus – kann sich Erdogan derzeit tatsächlich vorstellen Israel anzugreifen, wie er in einer seiner Reden vor seinen Unterstützer:innen gedroht hatte? – Ein Kommentar von Civan Ölmez.

Am 28. Oktober des letzten Jahres erklärte der türkische Präsident vor Hunderttausenden die Bereitschaft und die Fähigkeit des türkischen Staats, im Völkermord an den Palästinenser:innen „eines Nachts“ intervenieren zu können. Die Bekämpfung Israels durch türkische Truppen wurde seinen Unterstützer:innen als eine reale Option vermittelt. Nach 8 Monaten, in dem der Völkermord an den Palästinenser:innen einen neuen Höhepunkt erreicht hat, ist hiervon nichts zu sehen. Wie sieht die Beziehung zwischen der Türkei und Israel derzeit tatsächlich auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet aus?

Ein halbes Jahr Handel

Die allgemeine außenpolitische Strategie des türkischen Staats lässt sich so beschreiben: durch kontinuierliche Schaukelpolitik zwischen den imperialistischen Mächten wird versucht, die zwischenimperialistischen Widersprüche zum größtmöglichen eigenen Vorteil auszunutzen. Dies zeigt sich auch im Umgang mit Israel.

Die wirtschaftlichen Beziehungen, die die Türkei mit Israel unterhält, sind bedeutend: Im Jahr 2022 wurden 37 Prozent des israelischen Bedarfs an Eisen und Stahl durch Importe aus der Türkei gedeckt. Im selben Jahr reisten um die 850.000 israelische Tourist:innen in die Türkei. Im Jahr 2023 hatte der Wert des Handels zwischen der Türkei und Israel einen Wert von 6,8 Milliarden Dollar. Von diesem entfielen 76 Prozent auf türkische Exporte. Dies zeigt: Für türkische Kapitalist:innen ist Israel ein interessanter Standort.

Am 7. Oktober 2023 kam es dann zum von der Hamas angeführten Angriff auf Israel und zur anschließenden Entscheidung des israelischen Staats, den Moment zu nutzen, um den Völkermord an den Palästinenser:innen voranzutreiben.

Von diesem Zeitpunkt bis zum Dezember des selben Jahres fuhren 700 türkische Schiffe mit Öl, Stahl und Textilien nach Israel. Die Verwendung von Materialien aus türkischen Exporten im Krieg gegen Gaza liegt aufgrund der engen Zusammenarbeit israelischer Kapitalist:innen mit dem israelischen Staat nahe.

Erst, nachdem der internationale Druck auf Israel und der innenpolitische Druck auf Erdogan entscheidend größer wurden, entschied der türkische Staat Anfang diesen Monats – über ein halbes Jahr nach Beginn des Gaza-Kriegs –, einen Handelsstopp mit Israel auszurufen.

Die Fortführung des Handels wird dabei nicht an ein Ende des Völkermords geknüpft, sondern lediglich an die Forderung, humanitäre Hilfe durchzulassen.

Erdogan unterstützt die „Muslimbrüder“ militärisch – ein bisschen

Das politisch-militärische Verhältnis zeigt keine Kampfhandlungen, in denen die Länder im Gefecht aufeinander treffen und Tote oder Verletzte auf der jeweils anderen Seite hervorrufen. Der türkische Staat unterstützt die jedoch die Hamas als eine im Krieg militärisch beteiligte palästinensische Organisation durch die Gewährung eines Rückzugsorts, durch diplomatische Arbeit und nach eigenen Aussagen auch durch medizinische Versorgung.

Dies ist ein konkreter Eingriff in das militärische Geschehen auf einem niedrigen Niveau. Die Unterstützung der Hamas ist der Punkt, um den sich der ganze militärische Zwist der beiden Staaten dreht. Die direkte Konfrontation der beiden Staaten scheint sich auf die Ebene der Geheimdienste zu beschränken. Während der israelische Geheimdienst versucht, seinen Krieg gegen die Hamas auf türkischen Boden auszuweiten, betreibt der türkische Geheimdienst Spionagebekämpfung mit einer für diesen spezifischen Zweck geschaffenen Einheit.

Grundsätzlich handelt es sich sowohl bei der AKP als auch der Hamas um zwei Ableger der internationalen islamisch-fundamentalistischen Bewegung „Muslimbrüder“. Insofern besteht durchaus eine politisch-ideologische Überschneidung.

Außerdem hat das Erdogan-Regime das langfristige strategische Interesse, islamisch-fundamentalistische Kräfte im regionalen Ausland unter seine Führung zu bringen und als Reserven für die eigenen politischen und militärischen Interessen einzusetzen. Die Bekämpfung der autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien/Rojava und die Belagerung der Stadt Efrin sind Beispiele dafür. Hier wurde die „Freie Syrische Armee“ unterstützt, in die ehemalige Mitglieder des IS und der „Al-Nusra Front“ eingegliedert wurden. Die Hamas behält also auch im Interesse der Weiterentwicklung einer regionalen Expansionsstrategie für den türkischen Staat ihre Attraktivität.

Dass die Türkei die Verlegung strategisch bedeutender US-amerikanischer Kampfflugzeuge auf die Luftwaffenbasis „Incirlik” billigt, die – wenn es nötig wird – für die Verteidigung Israels eingesetzt werden, zeigt auch auf dem militärischen Gebiet nochmals eindrücklich die widersprüchliche Praxis des türkischen Staats.

Erdogans Waffen sind auf Kurdistan gerichtet

Die Rhetorik des türkischen Präsidenten in Bezug auf Israel steht im großen Widerspruch zum tatsächlichen Verhältnis der beiden Staaten. Auch wenn Widersprüche zwischen beiden Staaten erkennbar sind, ist die Stufe der Eskalation nicht auf dem von Erdogan vor seinen Unterstützer:innen behaupteten Niveau. Während er den Völkermord an den Palästinenser:innen zur Mobilisierung der türkischen Bevölkerung und zum Ausbau seiner ideologischen und politischen Führung nutzen will, konzentriert er seine militärischen Kräfte auf Kurdistan.

Eine neue große Offensive gegen die PKK in den Medya-Verteidigungsgebieten in Südkurdistan und die weitere Bekämpfung der autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien/Rojava sind die einzigen wirklichen militärischen Vorbereitungen des türkischen Staats.

Hierzu laufen schon seit einiger Zeit Besprechungen und konkrete Vorbereitungen mit der mit ihm kollaborierenden „PDK/Barzani-Clan” und dem irakischen Staat. Auch in der am 28. Oktober letzten Jahres gehaltenen Rede verknüpfte Erdogan das Leid des palästinensischen Volks mit dem Kampf gegen die PKK, indem er Israel zu einem vermeintlichen Unterstützer der PKK deklarierte.

Gerade der Wunsch, bei seinem kriegerischen Vorhaben in Kurdistan von westlichen imperialistischen Staaten unterstützt zu werden, kann jedoch die Haltung des türkischen Staats zu Israel und damit dem Krieg in Gaza in Zukunft noch gravierender beeinflussen. Dann dürften auch die aktuelle Anti-Israel-Rethorik nachlassen und die wenigen Maßnahmen zurückgeschraubt werden.

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