Recherchen des NDR legten Pläne von Bildungsministerin Stark-Watzinger offen, mit denen sie kritische Wissenschaftler:innen an Unis sanktionieren wollte. Nun fordern über 2.600 Lehrende ihren Rücktritt. – Ein Kommentar von Nick Svinets.
Auf allen Kontinenten solidarisieren sich derzeit Studierende mit dem palästinensischen Volk und setzen mit Protestcamps ein klares Zeichen gegen die herrschende Politik ihrer Länder. Sie zeigen die Komplizenschaft ihres Staats, ihrer eigenen Hochschulen und anderer Institutionen auf. Der zionistische Staat Israel, der seit Oktober 2023 die jahrzehntelange Unterdrückung der Palästinenser:innen durch die Invasion Gazas und die systematische Tötung der Bevölkerung auf eine neue, genozidale Ebene hob, steht dabei vielseitig in der Kritik.
Diese Kritik am Staat Israel wird besonders in der BRD zu einem „Antisemitismus” umgemünzt. Dahinter steht aber nicht das Motiv der eigenen Aufarbeitung der antisemitischen und völkermordenden Geschichte Deutschlands oder der Kampf gegen den alltäglichen, realen Antisemitismus, sondern die Durchsetzung der Interessen des deutschen Kapitals. Besonders die Aufdeckung der Komplizenschaft der BRD am Genozid in Gaza sorgt dafür, dass der Staat zu immer repressiveren Mitteln greift, um seine Beteiligung zu vertuschen.
In den letzten Monaten hat man die – von der deutschen Staatsräson geleitete – Politik und die damit zusammenhängenden Repressionen bei unzähligen Aktionen miterlebt oder beobachten können. Die extreme und brutale Antwort der Berliner Landesregierung sticht dabei immer wieder heraus – sei es beim Verbot des „Palästina-Kongresses” im April, dem brutalen Polizeieinsatz bei der Besetzung des „Jabalia-Instituts“ an der Humboldt Universität zu Berlin oder der Polizeigewalt gegen die solidarischen Studierenden beim Protestcamp an der Freien Universität zu Berlin.
Dozierende verteidigen Studierende – Stark-Watzinger will Sanktionen
Mithilfe eines offenen Briefs wandten sich deshalb auch Lehrende Anfang Mai an die Leitungen der Berliner Hochschulen und verurteilten – unabhängig von den Forderungen der Protestierenden – die massive Polizeigewalt, die mit den Polizeieinsätzen einherging. Sie sprachen sich explizit für den Schutz ihrer Studierenden und ihrer Rechte sowie für die Versammlungs-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit aus.
Berliner Wissenschaftler:innen solidarisieren sich mit pro-palästinensischen Studierenden
Als Reaktion bezeichnete Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) den offenen Brief als nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehend. Vor wenigen Tagen wurde nun der nächste offene Brief von Dozierenden gegen die Politik der Ampelregierung veröffentlicht: Explizit fordern darin mehr als 2.660 Lehrende (Stand heute) den Rücktritt der Bildungsministerin.
Grund dafür sind Recherchen des NDR, die Teile der Kommunikation im Bildungsministerium offen legten. Diese zeigen, dass die Bildungsministerin zumindest die Möglichkeit einer Streichung der Fördergelder der solidarischen Lehrenden in Betracht zog. Dem offenen Brief zufolge mache ihre Handlungsweise Stark-Watzinger in ihrem Amt untragbar. Dies wird von den Verfassenden wie folgt begründet:
„1) Die Prüfung dienstrechtlicher Sanktionen obliegt den Ländern als Dienstherren von Professor*innen.
2) Das Strafrecht gehört nicht zum Zuständigkeitsbereich des Ministeriums.
3) Die avisierte Rücknahme von Förderbescheiden widerspricht allen Prinzipien der grundgesetzlich garantierten Wissenschaftsfreiheit.“
Unterdrückung herrschaftskritischer Proteste hat Konjunktur
Schon als Antwort auf die Studierendenrevolten 1968 hagelte es Einschränkungen für Wissenschaftler:innen, die sich mit den Protesten solidarisierten. Auch der „Radikalenerlass“ der Bundesregierung 1972 spiegelt genau diese Logik wieder: Vor allem verwehrte man damit Studierenden, die Teil der 68er- oder anderer antikapitalistischer Bewegungen waren, die Ausübung ihrer erlernten Berufe im Öffentlichen Dienst.
50 Jahre Radikalenerlass: “Entschädigung für alle Betroffenen und Schluss mit Berufsverboten!”
Auch heute findet diese repressive Politik Anwendung wie beispielsweise Anfang des Jahres an der TU München: Hier wurde einer Person die Anstellung aufgrund ihrer Mitgliedschaft bei der „Roten Hilfe e.V.“ verwehrt.
Aber auch die Repressionen gegen derzeitige Palästina-solidarische Proteste an Berliner Hochschulen – z.B die Änderung des Berliner Hochschulgesetzes zur Durchsetzung politischer Exmatrikulationen – symbolisieren die Abwehr des herrschenden Systems gegen all seine Gegner:innen.
Das bedeutet schlichtweg: wer nicht im Gleichschritt mit dem Regierungskurs läuft (ein aktuelles Beispiel ist die derzeitige „Deutsche Staatsräson”) oder gegen das herrschende kapitalistisch-patriarchale System ankämpft, wird mit immer radikaleren Mitteln handlungsunfähig gemacht.
Von Sozialabbau, Militarismus bis hin zur Einschränkung der Wissenschaft
So reiht sich auch das aktuelle Handeln in die reaktionäre Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte ein: die Ampelregierung unternimmt derzeit alles Mögliche und Unmögliche, um zukünftigen faschistischen Kräften im Land die Grundlage für eine erneute Machtergreifung zu liefern – seien es eine ausgebaute „kriegstüchtige“ Bundeswehr und Industrie oder der Sozialsektor, der so unterfinanziert wird, dass die sozialen Missstände die Gesellschaft in die Arme der spalterischen und menschenfeindlichen Propaganda von AfD und anderen Nazis treibt.
Nun noch die Einschränkungsversuche bei der Wissenschaft, die eigentlich frei und im Interesse der Gesellschaft handeln sollte. Sie zeigen, dass aus der Geschichte nicht gelernt wird und die derzeitige Regierung nichts anderes tut, als dem Faschismus den Weg zu bereiten.