Für Deutschland ist die EM vorbei: „Unsere Jungs“ wurden von Spanien aus dem Turnier gekickt. Wie wenige Wochen schwarz-rot-goldenes Fußballfieber die Nation geprägt haben und was „wir“ daraus lernen sollten – das ist DAS Thema der nationalen Sportberichterstattung. Die wichtigsten Wortmeldungen und eine Bestandsaufnahme – ein Gastkommentar von Helena Gorski.
Die Fußball-EM ist erstmal vorbei – zumindest für Team Deutschland. Das ist nämlich raus: im Viertelfinale gegen Spanien ausgeschieden. Wie schon vor dem Turnier motiviert das eine ganze Abteilung mehr oder weniger großer Expert:innen, darüber fachzusimpeln, woran “es” denn gelegen hat. Da werden sportliche Schwächen ausgemacht und psychologische: War’s vielleicht der “Kampfgeist”, der fehlte?
Die nationale Ehre gebietet, dass nicht nur auf den freilich offensichtlichen Fehlentscheidungen des Schiedsrichter-Teams rumgehackt werden darf, ausgemacht werden müssen zumindest auch “eigene Schwächen” und “verpasste Chancen”. Viel wichtiger aber – denn ein positiver Abschluss ist gefragt und unbedingt will man den Fans “was zurückgeben” – muss diese eine Frage beantwortet werden: Was bleibt nach Ende des Turniers vom schwarz-rot-goldenen Fußball-Taumel?
Gemeinsam was machen
Unstrittig, dass sich da zuallererst der Bundestrainer höchstpersönlich berufen fühlt, ein paar Takte zu sagen. Julian Nagelsmann (“jung, mutig und geil auf Erfolg” titelte Eurosport schon vor einigen Jahren) ist nämlich überzeugt: Das Erfolgsgeheimnis der deutschen Mannschaft sei ihre Einigkeit und ihre positive Motivation. Es komme darauf an, “gemeinsam etwas zu machen” und zusammen “für den Erfolg zu kämpfen”.
Kurioserweise wird diese Aussage auch nicht dadurch blamabel, dass das mit dem Erfolg, zumindest dieses Mal, schon im Viertelfinale vorbei ist. Für Fußballnation Deutschland, die stets zu Höherem bestimmt sein soll und der es immer darum geht, “das Ding” zu holen, eigentlich kein besonders lobpreisendes Ergebnis. Auch was dieses mysteriöse “etwas” ist, das gemacht werden soll, diese Info bleibt Nagelsmann schuldig. Ist wohl einfach nicht so wichtig.
Sei es drum, denn dem jüngsten Trainer der EM-Turnierhistorie (er wird in zwei Wochen 37 Jahre alt) ist vor allem noch etwas anderes wichtig: An der deutschen Nationalmannschaft solle sich das gesamte deutsche Volk ein Beispiel nehmen, denn die Mannschaft habe gezeigt, wenn “alle zueinander halten” und “gemeinsam Gas geben”, dass es dann “Deutschland gut geht und wir alle glücklich sind”.
Wie man es vom Bundestrainer einer Nationalmannschaft erwartet, der im höchsten Auftrag der Nation eine Mannschaft Profi-Fußballer für den Erfolg Deutschlands auf dem Fußballfeld drillt, knüpft Nagelsmann die Stimmung (und viel mehr noch: das Wohlergehen!) der Volksmitglieder an den Erfolg ihrer Nation. Und gleich auch andersrum: Der Coach schlägt vor, dass alle Mitglieder des nationalen Zwangszusammenhangs sich bitte etwas positiver zu dem ganzen Laden, dem sie unterworfen sind, stellen. Sie sollen sich trotz der ganzen “negativen Nachrichten” darauf konzentrieren , “in was für einem schönen Land” sie leben. Denn dann ginge es direkt allen viel besser und seinem geliebten Deutschland auch.
Einfach zusammenhalten
Ja mei. Da werden Arbeitslosigkeit und Altersarmut doch gleich viel schöner, wenn man sich einfach nicht mehr auf sie konzentriert. Das “schöne Land” genießen, fällt natürlich auch leicht, wenn man allein in diesem Jahr 4,5 Millionen Euro verdient (andere Quellen sprechen sogar von 5 oder mehr) und darüber hinaus weitere 11 Millionen in der Westentasche stecken.
Julian Nagelsmanns zwei Kinder gehören wahrscheinlich auch nicht zu den mehr als 20% in Deutschland, die keine Fußballschuhe haben können, weil die Eltern schon zu arm sind, ihre Kinder mehrmals täglich mit einer gesunden Mahlzeit zu versorgen. Aber da würde der Coach vermutlich sagen: “Einfach zusammenhalten und gemeinsam die Zukunft gestalten und nicht jeder für sich”.
Einem auf Konkurrenz durchorganisierten Volk, dessen Insassen in andauerndem Kampf miteinander gezwungen sind, möchte der Experte der Nation also unbedingt mal geraten haben, ein bisschen mehr an einem Strang zu ziehen. Mit wem genau soll denn das Seil gezogen werden und in welche Richtung, möchte man fragen: Mit den “Arbeitgebenden”, deren finanzieller Gewinn der Arbeitenden Verlust ist? Oder mit dem besitzlosen Schicksalskollegen, dessen neuer Arbeitsvertrag die eigene weiter andauernde Arbeitslosigkeit besiegelt?
Eine nützliche Funktion
Sich selbst und seiner Mannschaft stellt der Bundestrainer (wie sollte es anders sein), natürlich die beste aller Urkunden aus: Zusammen hätten sie “einen großen Teil dazu beigetragen”, die Stimmung im Land ins Positive zu verändern – “aber es muss nachhaltig anders werden” sagt er dann und nimmt sein fußballverwöhntes Volk in die Pflicht.
Recht hat er: Das nationalistische Fußball-Spektakel stürzt das Land jedes Mal für ein paar Wochen in einen absoluten Ausnahmezustand – und verändert es, zumindest zeitweise. Für die Austragung dieses Großereignisses ist der Staat sogar bereit, hunderte Millionen Steuergelder aus der angeblich chronisch leeren Haushaltskasse herzuzaubern.
Wofür? Für DAS Volksvergnügen Nummer Eins. Weniger für Brot, als für Spiele. Bundesinnenministerin Nancy Faeser drückte es so aus: Die EM soll “uns mal eine unbeschwertere Zeit einbringen, wo wir uns wieder freuen können […] und nicht immer an die schlimmsten Dinge denken, die gerade außenpolitisch wie innenpolitisch eine Rolle spielen“. Genau das. Einfach mal wieder happy saufen, den ganzen Mist des persönlichen und politischen Alltags vergessen und freuen, dass man immerhin Teil eines einzigartigen großen Ganzen ist, das es sogar so weit gebracht hat, eine Fußball-Europameisterschaft auszutragen. (Und kostenlose Trikots gibt’s auch noch dazu! Danke Check24!).
Einmal infiziert mit dem Fußballfieber sollen die Volksmitglieder sich jenseits aller herrschaftlich eingerichteten Interessensgegensätze nun hinter ihrer Mannschaft vereinen und sich in Abgrenzung zu den anderen als Teil eines großen Ganzen fühlen: als Teil ihrer Nation. Egal, wie wenig sie im Alltag gemein haben und wie konkurrierend der oder die Einzelne zu den anderen Mitgliedern des nationalen Zwangskollektivs aufgestellt ist – in der EM (oder WM) kann (und soll) jeder alle Schwierigkeiten und Probleme des Alltags in der Konkurrenzgesellschaft verdrängen, sich dem Erfolg seiner Nation verschreiben und gefühlsduselig mitfiebern. Das ist *das* Rundum-sorglos-Paket für das staatsbürgerliche Bewusstsein der Untertanen: Endlich ganz und gar positiv auf den politischen und ökonomischen Zwangszusammenhang beziehen, dem man zugeordnet ist.
Blühe, deutsches Vaterland!
Doch natürlich bleibt der Nationaltrainer nicht der Einzige des inner circle, der die Bedeutung des Turniers für Deutschland auf den Punkt bringen möchte – und dabei noch ein paar bedeutungsschwangere Worte an die hörige Nation sendet.
Für Toni Kroos, Multimillionär mit Wohnsitz in Spanien und seit neuestem erfolgreichster deutscher Fußballer der Geschichte (nach gewonnenen Titeln), ist mit dem Ende des Turniers auch die eigene Karriere als Fußballer zu Ende. Das gab er in seinem Podcast “Einfach mal Luppen” bekannt. Auf seinem Instagramprofil bedankt er sich bei den Fans und der Mannschaft. Er sei “sehr stolz auf das, was diese Mannschaft geleistet hat” und findet, “das darf auch ganz Deutschland wieder sein”. Also stolz. Auf eine Truppe fremder Millionäre, die einen Ball kickend die Konkurrenz der Nationen auf dem Spielfeld austragen.
Dann sagt er noch: “Deutschland ist wieder wer!!!” gefolgt von schwarz-rot-gelben Herzen. Für den Mittelfeldstar ist die Identifikation mit der eigenen Nation ein Kinderspiel. Den Erfolg einer Truppe professioneller Fußballer auf dem Fußballrasen stilisiert er zum Erfolg der gesamten Nation in der Staatenkonkurrenz, zu der wir alle dazugehörten. Wir gegen die anderen haben es mal wieder geschafft, wir haben es allen gezeigt, wir sind einfach sowas von schwarz rot geil.
Die Fans in den Kommentaren sind am Ausflippen: “Tolle Worte, Toni”, “ich heule” und “vielen Dank für alles!!” liest man da. Man könnte meinen, Menschen, die nicht tagtäglich vom goldenen Löffel essen wie der Herr Kroos selbst, würden mit etwas mehr Distanz auf das Lob an jenem Gemeinwesen reagieren, das ihnen tagein tagaus all die Verhältnisse einbrockt, aus denen ihre Nöte entspringen.
Aber viele Menschen trennen dies eben erbittert voneinander ab: die alltägliche Unzufriedenheit mit dem Staat, für den sie Steuern zahlen und der sie dann trotzdem aus Jahrzehnten zermürbender Lohnarbeit in die Altersarmut abschiebt, einerseits – und den positiven Bezug auf die deutsche Nation andererseits. Komme was wolle: Das Untertanenbewusstsein sitzt nagelfest. Unerbitterlich ignoriert es alles, was nicht zum schönen Schein der unbrechbaren Einheit mit seinem Staat passt.
Sorge um die Nation (Achtung, der Ausländer)
Doch der Ex-Spieler (so schnell geht’s) hat auch ein paar warnende Worte an das Land der Dichter und Denker zu richten. Dazu sitzt er passenderweise schon kurz vor dem Viertelfinale beim denkerischsten Duo Deutschlands “(Markus) Lanz & (Richard David) Precht” und spricht neben allem und nichts auch ein bisschen über seine aufrichtigen Sorgen um unser Land.
Das sei nämlich “nicht mehr das Land wie vor 10 Jahren”, und das merke er daran, dass er seine 14-jährige Tochter lieber in Spanien abends durch die Straßen gehen lässt als in Deutschland. Er habe in Deutschland einfach ein mulmigeres Gefühl. Auf Kroos‘ Bauchwahrheiten wollen auch die beiden Fernseh-Philosophen noch ein paar Spekulationen gewusst haben: Precht attestiert den Spaniern direkt mal eine “weniger aggressive Gesellschaft” als Deutschland (weil wärmer wahrscheinlich und das macht irgendwie irgendwas mit der Aggressionsbereitschaft der Leute, oder so) und Lanz urteilt geradeheraus: “Es ist zu voll, es ist zu viel”. Was da “zu viel” ist, muss er gar nicht mehr sagen, der kundige deutsche Zuschauer versteht auch so: Die Ausländer, natürlich.
Nützlich und leistungsfähig für Deutschland
Über die möchte sodann auch Toni Kroos sprechen und sagt: “Es gibt aber immer einen bestimmten Prozentteil an Menschen, unter Deutschen genauso, der einem Land nicht gut tut. Wenn man da nicht unterscheiden kann, dann wird es am Ende schwierig.” Na klar. Der gewiefte deutsche Nationalist will nur diejenigen bei uns haben, die der Nation “gut tun”. Der setzt sich in eins mit dem Wohle der Nation und ist sich auch nicht zu schade dafür, Regeln für (Re-)Migration zu diskutieren, als würde er die selbst durchsetzen.
Der Nützlichkeits-Nationalist hat heute nicht mehr grundsätzlich etwas gegen die anderen, er will nur „brauchbare“ und „unbrauchbare“ (weil kapitalistisch nicht verwertbare) Ausländer:innen, möglichst passgenau nach bestimmten Kriterien sortieren. Eine maximal effiziente Ausnutzung menschlicher Ressourcen im globalen Wettbewerb der Nationen, das ist das erklärte Ziel des moderenen deutschen Nationalismus – und von Toni Kroos.
Konsequent ist er darin dann aber auch nicht, denn ausbürgern möchte er den “bestimmten Prozentteil” an Deutschen, die für ihr Land angeblich ja auch “nicht gut” seien, dann lieber nicht. Das ginge zu weit, denn die gehören ja schon noch zur heiligen Volksgemeinschaft. Nur wer von den anderen neu dazukommen will, muss seine Bewegungsfreiheit dann eben nach seiner Ausbeutungsfähigkeit entscheiden lassen.
Wovon der berühmte Leistungssportler selbst so ein großer Fan ist, dass er es direkt allen Volksmitgliedern gesagt haben will: Wie wichtig das Streben nach maximaler Leistungsfähigkeit ist. Darum geht’s dann nämlich in der Männerrunde auch noch, weil der Fußballer jetzt plötzlich meint eine “komplett falsche Richtung” darin zu erkennen, dass im Jugendfußball angeblich manchmal die Tore nicht mehr gezählt werden. Dass die da einfach spielen und kicken, ohne am Ende zu wissen, wer denn jetzt gewonnen hat, macht den dreifachen Vater ganz rasend. Er wünscht sich, dass seine eigenen Kinder immer versuchen, “in dem, was sie machen, die Besten zu werden”. Na Prost. Lieber Toni, die Nation dankt.
Ordentlich angestachelter Nationalstolz, check
Was bleibt also? Neben den üblichen “Fan-Zusammenstößen” und rassistischen Entgleisungen von Leuten, denen der geistige Spagat zwischen dem unbedingt erwünschten Jubeln für das nationale Wir und der konsequenten, aber angeblich falschen (weil moralisch verwerflichen) Ablehnung der anderen nicht mehr einleuchtet, vor allem eins: Lob und Ehre für die Nation, ein ordentlich angestachelter Nationalstolz bei ihren Mitgliedern und der notwendige Motivationskick, sich doch selbst auch ein bisschen mehr anzustrengen, damit wir hier gut und gerne (“glücklich”) leben können. Also überraschenderweise genau das, was der Zweck der ganzen Chose war.
Auch wenn Deutschland am Ende doch nicht mit dem Pokal nach (zu) Hause geht (bleibt), die einende und sinnstiftende Wirkung des nationalistischen Massenspektakels namens Europameisterschaft hat es geschafft, zumindest ein Teil des Volks voller Widersprüche mit Stolz auf das zu beseelen, was alle seine Mitglieder eint: Die zwangsweise Zu- und Unterordnung unter das gleiche staatliche Gewaltmonopol. Das war ein Scherz, die heilige Nation natürlich.