Der Tag der deutschen Einheit sollte eine Feiertag für den deutschen Nationalismus sein – so die bürgerlichen Medien. Aber das gilt längst nicht für jeden. Das Leipziger Solidaritätsnetzwerk wurde dazu aktiv und bringt interessante Aspekte ans Tageslicht. – Ein Bericht von Johann Khaldun.
Jedes Jahr das Gleiche: der Tag der deutschen Einheit jährt sich und in den bürgerlichen Medien hören wir beinahe einstimmig: Das war ein großer Tag für die Nation. Endlich wieder ein geeintes Deutschland. Nun war auch der zweite deutsche Unrechtsstaat überwunden und wir alle sind seitdem in Demokratie und Nation vereinigt. Das ist das ungebrochene, nationalistische Bild, das uns die bundesdeutsche Ideologie verkaufen will.
Für das Solidaritätsnetzwerk Leipzig ist dieses Bild aber gar nicht so selbstverständlich. Die Gruppe, die sich auf die sozialistische Stadtteilarbeit im Leipziger Westen konzentriert, hat daher seit Mitte September Aktionen durchgeführt, um die wirkliche Stimmung der Menschen im Osten Deutschlands zu erfassen und eine alternative Perspektive und Handlungsmöglichkeiten vorzuschlagen. Die Erfahrungen, die sie dabei gemacht haben, sind spannend und manchmal auch überraschend.
Widersprüche der Wende und eine neue Perspektive
Aber wie ist das Solidaritätsnetzwerk Leipzig überhaupt auf die Idee gekommen, diesen Tag so ernst zu nehmen? Omar D., ein Mitglied der Gruppe, sagt dazu: „Nicht nur in unserer politischen Arbeit begegnen uns regelmäßig die verschiedensten Meinungen zur DDR und der Wende. Auch in unseren Familien und unter unseren Freundinnen und Freunden kommt das Thema immer wieder direkt oder indirekt auf. Die Wiedervereinigung ist offenbar kein beendeter Prozess. Viele Menschen hier im Osten sind tief davon geprägt. Wir wollten daher das machen, was die bürgerliche Gedenkkultur nicht macht: diese Prägung und ihre Widersprüche ernst nehmen.“
Mit diesem Ansatz ist es klar, dass die Gruppe vor allem auf Tuchfühlung mit den Menschen gehen sollte, um herauszufinden, wie diese unterschiedlichen und sogar widersprüchlichen Erfahrungen genau in Lindenau aussehen, dem Stadtteil im Leipziger Westen, in dem das Leipziger Solidaritätsnetzwerk am aktivsten ist.
Aber, so betont Krissi M., die auch Teil der Gruppe ist: „Wir wollen die Aktionen auch dazu nutzen, um den Menschen hier unsere Politik nahezubringen und ihnen damit eine Alternative anzubieten. Wir sind Sozialistinnen und Sozialisten und vertreten das auch offen. Unser Ziel ist klar, wir wollen einen Stadtteil, in dem wir über Räte unsere Angelegenheiten und Interessen selbst in die Hand nehmen!“
Deswegen hat die Gruppe eine Kundgebung auf dem belebten Lindenauer Markt veranstaltet, bei dem sie die Anwohner:innen über ihre Ansichten zur Wende befragt und auch selbst in Reden ein Licht auf die Zusammenhänge der Probleme des Ostens mit dem Kapitalismus geworfen haben. Die abschließende Rede hat die Unaufrichtigkeit der bundesdeutschen Gedenkkultur hervorgehoben, durch die immer mehr das Grauen des dritten Reiches im Zeichen der allgemeinen Militarisierung hinter dem Schreckgespenst der DDR und einstiger und neuer Feindbilder wie Russ:innen und Muslim:innen zum Verschwinden gebracht wird. Dagegen helfe es nur aktiv zu werden und sich für ein differenziertes Geschichtsbild und eine bessere Gesellschaft stark zu machen.
Annexion der DDR: Konsequenzen für die Arbeiter:innen bis heute
Frauenbefreiung in der DDR: ein voller Erfolg?
Nach der Kundgebung hat die Gruppe ihren monatlichen Stammtisch veranstaltet, wie immer am letzten Freitag des Monats. Thematisch unter den Tag der deutschen Einheit gestellt, gab es ausgesprochen großes Interesse und zum Teil hitzige Diskussionen.
Während sich die Teilnehmer:innen noch relativ einig darin waren, dass es für sehr viele Menschen im Osten durchaus schlechter wurde, was ihre materielle Absicherung anging, und dass der soziale Zusammenhalt regelrecht vom Kapitalismus aufgelöst wurde, lösten andere Fragen größere Diskussionen aus.
Gerade als es darum ging, wie weit in der DDR denn die Frauenbefreiung wirklich gelungen ist, traten größere Differenzen zutage. In einem Input hat das Solidaritätsnetzwerk darauf hingewiesen, dass es durchaus Fortschritte gab, dass diese sogar im Vergleich zur BRD der Zeit voraus waren, dass sie aber heute nicht genügen würden und es schon damals zu wenig war, gemessen am sozialistischen Ziel.
Von den Herren in der Runde wurde zunächst dagegen argumentiert, dass es trotzdem ein Problem mit dem Patriarchat in der DDR gab. Aber gerade ein eindrücklicher Redebeitrag einer Teilnehmerin, die Erfahrungen aus der eigenen Familie wiedergab, wies darauf hin, dass selbst die Frauen in der DDR noch in patriarchalen Denk- und Verhaltensmustern verblieben sind. So wurde nicht nur auf die fortgesetzte Doppelbelastung und geschlechtliche Arbeitsteilung, sondern auch auf das Fortbestehen der Konkurrenz unter Frauen aufmerksam gemacht.
Die Probleme sichtbar machen
Die Aktionsreihe der Gruppe hat mit dem Stammtisch aber noch nicht ihr Ende gefunden. Am kommenden Donnerstag, dem ganz offiziellen Gedenktag zur deutschen Wiedervereinigung, veranstalten sie eine Ausstellung ab 16 Uhr im sozialen Zentrum „Clara Zetkin“. Dabei wird es darum gehen, wie die Wende das Stadtbild verändert hat und wie sich dadurch die Widersprüche, die die Menschen im Osten erfahren haben und noch immer erfahren, auch in der Architektur und ihrer Veränderung abbilden.
Auch bei dieser Gelegenheit wird das Leipziger Solidaritätsnetzwerk wieder Umfragen durchführen, um diese Widersprüche besser zu verstehen und aktiv gemeinsam mit den Menschen Wege zu finden, ihre Stadt und ihr Leben selbst zu gestalten.
Ein Projekt mit Zukunft: Das soziale Zentrum „Clara Zetkin“ feiert seine Eröffnung