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Dienstag, Oktober 15, 2024
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    Haft für den Kurden Kenan Ayaz – Deutsche Gerichte als langer Arm der Türkei

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    Anfang September wurde Kenan Ayaz in einem §129b-Verfahren wegen seiner vorgeblichen Mitgliedschaft in der PKK schuldig gesprochen. Sein letztes Wort widmete Kenan der langen Unterdrückung der Kurd:innen und ihrem legitimen Widerstand. Der Prozess stand im Zeichen der türkischen Einflussnahme auf deutsche Repressionsbehörden.

    Am 2. September ist am Oberlandesgericht in Hamburg der seit November 2023 geführte Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz zu seinem Abschluss gelangt: Kenan wurde nach dem §129b, der die Mitgliedschaft in einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung im Ausland besagt, zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt.

    Der Fall Kenan Ayas und die kollektive Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung

    Seiner Inhaftierung in Deutschland ging ein Auslieferungsgesuch der deutschen Generalbundesanwaltschaft an die zypriotischen Behörden voraus, welchem stattgegeben wurde. In Zypern hatte Kenan vor der Verfolgung des türkischen Staatsterrors der AKP-Regierung Zuflucht gefunden. Dort erfuhr er von großen Teilen der zypriotischen Bevölkerung breite Solidarität gegen seine Festnahme in Larnaka und die anschließende Auslieferung an die deutschen Strafverfolgungsbehörden. Im November gleichen Jahres begann schließlich der Prozess vor dem Hamburger Staatsschutzsenat.

    Letzte Worte mit Fokus auf kurdische Unterdrückung und legitimen Widerstand

    Hinter diesem Fall stehen tief gehende ökonomische und geostrategische Interessen und Widersprüche. Denn die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind Ausdruck dieser Machtverhältnisse, die in der Kriminalisierung der Kurden und der historischen Unterdrückung Kurdistans besonders sichtbar werden. Ganz konkret drücken sich die Interessen Deutschlands vor allem in der Abwehr von Geflüchteten durch einen Deal mit der Türkei aus – dafür wird bei türkischen Verbrechen gerne weggeschaut.

    Die Kurd:innen – eine der größten unterdrückten Ethnien im Nahen Osten ohne eigenes Territorium – verteilen sich über mehrere Länder, darunter die Türkei, der Iran, der Irak und Syrien. Ihr Kampf für eine gleichberechtigte Selbstbestimmung und soziale Befreiung wird seit Jahrzehnten von den bürgerlichen Nationalstaaten – allen voran die Türkei – mit äußerster Brutalität unterdrückt. Dabei wurden und werden immer noch schwere Gewaltverbrechen an der Zivilbevölkerung der kurdisch besiedelten Gebiete begangen. Die Kurd:innen stellen dort eine signifikante Minderheit dar, die von der herrschenden Klasse systematisch marginalisiert und ausgebeutet wird und sich in einem militärischen Dauerzustand der Belagerung befindet.

    10 Jahre Genozid an den Jesid:innen: Der Kampf gegen Patriarchat, Faschismus und Imperialismus hält an

    Der Angeklagte Kenan Ayaz nahm sich seit Juli die Zeit und Mühe für seine abschließende Prozesserklärung als sogenannte „letzte Worte“, um eine umfassende historische Einordnung des kurdisch-türkischen Konflikts zu unternehmen: Er legte dar, wie die kurdische Bevölkerung seit dem Osmanischen Reich im späten 19. Jahrhundert zunehmend unterdrückt wurde – insbesondere durch die Hamidiye-Regimente, die von Sultan Abdülhamid II. gegründet wurden.

    Er erklärte, dass die Unterdrückung Kurdistans ihre Fortsetzung besonders im Ersten Weltkrieg mit der anschließenden Neuordnung der Region durch die imperialistischen Mächte hatte. Der Vertrag von Sèvres im Jahr 1920, der den Kurd:innen die Aussicht auf einen eigenen Staat versprach, wurde anschließend durch den Vertrag von Lausanne 1923 wieder zunichte gemacht, indem er die bestehenden hegemonialen Machtstrukturen festigte. Dadurch wurde die kurdische Bevölkerung der Region auf mehrere Nationalstaaten verteilt, was erst die Grundlage für ihre fortwährende Unterdrückung und Ausbeutung legte. Besonders in der Türkei wurden ihre Sprache, ihre Kultur und politischen Aktivitäten konsequent unterdrückt und revolutionäre Bestrebungen militärisch niedergeschlagen.

    Auch in der jüngsten Geschichte der wechselnden türkischen Regierungen habe Kenan Ayaz zufolge die strukturelle Repression und Verfolgung der kurdischen Bevölkerung stetig zugenommen. Die Tatsache, dass ein von Frauen organisiertes und angeführtes Bollwerk den IS-Terror zurückdrängte und hunderttausende Menschen in Nordostsyrien vor weiteren Massakern, Plünderungen und Vergewaltigungen schützte, werde in ihrer Bedeutung von der internationalen Weltgeschichte verkannt. Diese Frauenrevolution der Kurdinnen sei im Gegenteil von Kriminalisierung und dem Vorwurf des Terrorismus gebrandmarkt, obwohl sie in Wirklichkeit ein Symbol der Befreiung und Gleichberechtigung für die Menschheit sei.

    Repression gegen Kurd:innen in Deutschland

    In Deutschland spiegelt sich die Unterdrückung der Kurd:innen in den Repressionen wider, die viele kurdische Migrant:innen und politische Aktivist:innen auch hierzulande erfahren. Die türkische Regierung, die quasi als Handlanger der imperialistischen Interessen in der Region agiert, drängte Deutschland dazu, die kurdische Befreiungsbewegung, insbesondere die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), als terroristisch einzustufen und entsprechend zu kriminalisieren. Diese Kriminalisierung diene der Aufrechterhaltung der hegemonialen Ordnung und der Unterdrückung jedes revolutionären Potentials, das von Kurd:innen ausgeht – selbst in der Diaspora.

    Die deutsche Regierung befindet sich hier in einem ständigen Widerspruch: Einerseits versucht sie, ihre geopolitischen Allianzen mit der Türkei zu stärken – als wichtigem NATO-Partner und Absatzmarkt für deutsche Konzerne. Andererseits spürt sie den wachsenden Druck von unten, der die Solidarität mit den unterdrückten Kurd:innen fordert. Statt sich nun auf die Seite der Unterdrückten zu stellen, unterwerfen sich die deutschen Behörden jedoch den Interessen des Kapitals, indem sie die Repression gegen kurdische Aktivist:innen sogar verschärfen. Diese Dynamik verdeutlicht den Klassencharakter des deutschen Staats und die unauflösbare Verflechtung zwischen imperialistischer Außenpolitik und innerer Repression.

    Zum Schluss bedankte sich der Angeklagte in tiefer Verbundenheit bei seinen Rechtsanwält:innen, bei der zypriotischen Bevölkerung für ihre ungebrochene Solidarität und bei allen Prozessbeobachter:innen und all denjenigen, die ihm Briefe zukommen ließen. Eine besondere Danksagung galt den Frauen und ihrem Kampf um Befreiung und Gleichberechtigung. Er glaube trotz und gerade wegen seiner Biographie an den Kampf um Frieden und Gerechtigkeit.

    Anwält:innen betonen Willkür

    In zwei sehr bewegenden Abschlussplädoyers hatten auch seine Rechtsanwält:innen Antonia von der Behrens und Stephan Kuhn den §129b-Prozess gegen ihren Mandanten resümiert. So sei bereits seine Festnahme im vergangenen Jahr auf Zypern aufgrund eines internationalen Haftbefehls das Produkt einer Verkettung von behördlicher Willkür des deutschen Staatsschutzapparats und eines politischen Kalküls, in denen sich die Interessen des türkischen Staats von der BRD zu eigen gemacht werden.

    Kenans Verteidiger:innen betonten, dass dieses Gerichtsverfahren einen Schandfleck des deutschen Strafrechts symbolisiere und darüber hinaus einen geheimdienstlichen Skandal und einen schweren Verstoß gegen die Menschenrechte versinnbildliche. Die Strafbarkeit im Fall von Kenan Ayaz basiere auf außenpolitischer Lenkung und unterläge einem selektiven und verfassungswidrigen Vorgang.

    Die Europäische Union und die deutsche Bundesregierung müsse sich historisch darüber im Klaren sein, dass die aktuelle türkische AKP-Regierung einen autokratischen und antidemokratischen Unrechtsstaat betreibe, der seine eigene Bevölkerung bombardiere, seine eigene Rechtsstaatlichkeit zerstöre und schwere Verletzungen von Menschenrechten begehe. Bereits die deutsche Vorgängerregierung habe immer genauestens von diesen Umständen Kenntnis gehabt, und es sei seitdem dennoch keine substantielle Verbesserung in der Türkei eingetreten.

    Das türkische Regime kooperiere ungehindert mit islamistischen Milizen und sei durch die Beschneidung von politischer Teilhabe zu charakterisieren, indem es systematisch Minderheiten unterdrücke und versuche, Oppositionelle durch systematische staatliche Repression zum Schweigen zu bringen und zu zerschlagen.

    Deutscher Staat als langer Arm des türkischen Faschismus

    Diesen bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei lägen die strukturelle Kriminalisierung der PKK und Einordnung als terroristische Organisation in Europa zugrunde. Speziell im Fall von Kenan Ayaz habe der deutsche Verfassungsschutz durch den vorgeschobenen Grund des Identitätsschutzes der V-Personen und Informant:innen, sowie gravierenden Widersprüchen eine zweifelsfreie Aufklärung und Beweisführung unmöglich gemacht. Auch das Gericht selbst habe keinerlei Anstrengungen unternommen, eine lückenlose und fehlerfreie Aufklärung zu ermitteln und Perspektiven einer Entlastung des Angeklagten in den Blick zu nehmen.

    Kenan wisse zu genau, was es bedeute, trotz friedlicher Bestrebungen der Folter und Unterdrückung eines antidemokratischen Staatsapparats wie dem der Türkei hilflos ausgeliefert zu sein. Er hatte bereits 12 Jahre seines Lebens in türkischer Folterhaft verbracht. Das Verteidiger-Team stellte fest, dass dieses Gericht trotz alledem keinerlei Verständnis für Kenans persönliche, zutiefst tragische Situation aufbrachte. Sie beantragten bis zuletzt die Freilassung seines Mandanten.

    Auch deutsche Unternehmen hätten schon immer eine wichtige Rolle in der Industrialisierung der Türkei gespielt und seien seit jeher ein wichtiger Handelspartner in den wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei. Nach Auffassung der Verteidigung sei es daher unmissverständlich, dass die politische Verfolgung von Oppositionellen und Linken unmittelbar mit den wirtschaftlichen Interessen zwischen der Türkei und Deutschland verknüpft sei. Besonders im Fall von Kenan hätten die Beitrittsverhandlungen der NATO mit Schweden und Finnland ab Mitte 2022 seine Strafverfolgung noch vorangetrieben und kennzeichneten den Charakter dieser Anklage.

    NATO-Erweiterung: Schweden und Finnland sichern hartes Vorgehen gegen PKK zu

    Das türkische Präsidialamt hatte demnach in einer Presseerklärung mitgeteilt, dass die NATO-Beitrittsprozesse nur unter der Berücksichtigung türkischer Sicherheitsinteressen getroffen würden und eine strenge Strafverfolgung von politischen, kurdischen Organisationen in Schweden und Finnland maßgeblich hierfür sei.

    Scharfe Kriminalisierung

    Von der Behrens führte weiter aus, dass der Senat die Anklage der Staatsanwaltschaft nach dem §129b verkenne und eine Einstellung des Verfahrens hätte einfordern müssen, da sich der Haftantrag und die Anklage ausschließlich auf tendenziöse und spekulative Erkenntnisse stützen würden.

    Auch die im Zeugenstand vernommenen Beamt:innen des BKAs und LKAs, sowie der Verfassungsschutzbehörden konnten der Verteidigung zufolge während der durchgeführten Beweisaufnahme keine schlüssigen Erklärungen liefern – auch das Gericht habe die Einflussnahme der Türkei nicht entkräften können. Kenans Inhaftierung und Auslieferung hätte darüber hinaus auch politisches und rechtliches Unverständnis in Zypern mit einer breiten Solidaritätswelle ausgelöst.

    Nach Stand des Jahres 2024 seien erneut drei internationale Auslieferungsgesuche durch Deutschland ausgestellt worden, die wohl zweifelsfrei im Interesse der Türkei betrieben wurden. Deutschland könne keinerlei innenpolitisches Begehren dabei haben, diese verfolgten Aktivist:innen vor deutsche Gerichte zu stellen.

    Das hiesige Staatsschutzverfahren habe sich dadurch charakterisiert, dass keinerlei Interesse an der Aufklärung des Falles bestanden habe und das Gericht weitestgehend kritiklos die Ausführung des Generalbundesanwalts übernommen habe – es fiel damit auf, fast 70 Beweisanträge der Verteidigung abgelehnt zu haben. Die Verteidigung erkenne darin eine deutliche Vorverurteilung ihres Mandanten.

    Dabei habe im Verlauf des Prozesses die Vorsitzende Richterin Petra Wende-Spors mehrmals das Recht auf Öffentlichkeit angegriffen. Durch das Kopieren der Ausweisdokumente der Prozessbeobachter:innen, der Duldung und dem gezielten Ignorieren einer defekten Saal-Akustikanlage habe sie ein fundamentales Prinzip von Öffentlichkeit verletzt. Zusätzlich wurden zwei Befangenheitsanträge gegen die Vorsitzende gestellt, die beide ebenfalls abgelehnt wurden.

    Auch sei die Vorsitzende Richterin zum wiederholten Male durch ihr stetiges verbal aggressives Auftreten, ihre beleidigende Wortwahl und ihre Schikanen gegenüber den Zuschauer:innen aufgefallen.

    Die verschärften Haftbedingungen, unter denen Kenan einsäße, seien ebenfalls juristisch unhaltbar, da er bei den – ohnehin schon rar genehmigten – Besuchsterminen seiner Verteidigung hinter einer Glastrennscheibe sitze, ein Leserichter seinen Briefverkehr kontrolliere und ihr Mandant einer 23-stündigen Einzelhaft unterliege.

    Die Anklage des Generalbundesanwalts habe sich in dieser Hauptverhandlung nicht ansatzweise bestätigt. Kennzeichnend für dieses Verfahren seien eine einseitige Interpretation und die Behauptung von unbewiesenen Ermittlungserkenntnissen, die zu Grunde gelegt worden seien.

    Erhebliche Mängel seien auch bei den deutschen Übersetzungen der Telekommunikationsüberwachung vorzufinden: die Behördenzeugnisse des BKAs und LKAs, sowie der Verfassungsschutzbehörden seien durchsetzt mit einschneidenden Fehlern und interpretativen Behauptungen und Mutmaßungen.

    Mögliche Rückführung nach Zypern

    Trotz des besonderen Engagements der Verteidigung und Kenans umfangreicher inhaltlicher Ausführung gemäß seines Erklärungsrechts verurteilte der Hamburger Staatsschutzsenat Kenan Ayaz am 2. September zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten. Er wird nach Prüfung der Revision seine restliche Haftzeit in Zypern absitzen dürfen.

    Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Kenan ein hochrangiges Mitglied der PKK ist und wertete die Ermittlungsergebnisse der Verfassungsschutz- und Landeskriminalämter zweifelsfrei als bestätigte und bewiesene Feststellungen. Auch habe der Angeklagte nach den gesammelten Erkenntnissen der polizeilichen Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) ein „hochkonspiratives und kaderspezifisches Nutzungsverhalten” von elektronischen Kommunikationsformen geführt. Hierbei sei ein verklausulierter und kodifizierter Sprachgebrauch benutzt worden, wie zum Beispiel die Nutzung des Wortes „Spazieren gehen“ für das „Spendensammeln” und die Bezeichnung „großer Bruder“ als Unterordnungsanzeichen ungeprüft als bewiesen gelten. Somit sei seine kriminelle Betätigung in einer verbotenen Organisation nachgewiesen.

    Nach neunmonatiger Verhandlung endete dieser Prozess mit einem zu erwartenden Urteil. Denn die Vorverurteilung und Kriminalisierung der kurdischen Bevölkerung und ihres Kampfs um Befreiung von Besatzung folgt einer jahrzehntealten politischen Kontinuität in der BRD.

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