Aktuell gibt es Lieferengpässe bei etwa 500 Medikamenten. In den letzten Jahren sind die Schwierigkeiten bei der Lieferung von Arzneimitteln immer weiter gestiegen. Neben der Entflechtung der Wirtschaft spielt auch ein Fitnesstrend eine Rolle.
Seit Jahren gibt es Lieferengpässe bei der Versorgung mit Medikamenten in Deutschland. Laut dem Vorsitzenden des Hessischen Apothekerverbands Holger Seyfarth seien „1500 Medikamenten kurzfristig nicht lieferbar“. Konkret bedeutet dies eine Lieferzeit von mindestens zwei Wochen.
Ein Blick in die aktuellen Meldungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte zeigt, dass es momentan bei 500 Medikamenten Engpässe gibt. Nicht mit eingerechnet sind dabei verschiedene Packungsgrößen, wodurch etwa die dreifache Menge an Medikamente fehlt.
Immer wieder oder dauerhaft auftretende Lieferengpässe sind nicht neu. Während 2013 die Zahl kurzfristig nicht lieferbarer Präparate bei lediglich 40 lag, stieg die Zahl bis 2022 auf 330 Medikamente. Im Frühjahr 2024 gab es Probleme bei 529 Arzneimitteln. Konkret bedeutete das, dass beispielsweise 2019 bei 9,3 Millionen Rezepten auf ein anderes Medikament ausgewichen werden musste – sofern es passenden Ersatz gab.
Besonders wenn in lebensbedrohlichen Situationen Medikamente fehlen, stellt dies eine große Gefahr dar. Dies war beispielsweise im Sommer 2018 bei einem Mittel für Insektengift-Allergiker der Fall, um einen anaphylaktischen Schock zu behandeln. Aber auch bei anderen Krankheiten fehlen Medikamente, um eine ausreichende Behandlung zu sichern.
Mitte Oktober 2023 meldeten erste Pharmaunternehmen zudem, dass sie das HIV-Medikament Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil nicht liefern könnten.
Lieferengpass bei HIV-Medikament: Patient:innen können nicht mehr ausreichend versorgt werden
Reformen gegen Lieferengpässe bisher erfolglos
Die Lieferengpässe bei Medikamenten sind teilweise darauf zurückzuführen, dass ein Großteil der Produktion in Länder wie China und Indien verlagert wurde, wo günstigere Generika hergestellt werden. Die Corona-Pandemie und unterbrochene Transportwege hatten diese Situation verschärft, da es an Rohstoffen fehlte.
Bei der Beschaffung von Krebsmedikamenten sollten die Krankenkassen zudem dazu gezwungen werden, einen größeren Teil aus Europa einzukaufen, um die europäische Produktion anzukurbeln und weniger abhängig von China und anderen Staaten zu sein.
Ein weiterer Grund für die Engpässe ist darauf zurück zu führen, dass in Deutschland Krankenkassen für bestimmte Medikamente einen Festpreis zahlen, während die Herstellungskosten, wie die für Paracetamol, stark gestiegen sind.
Dadurch war die Produktion für Pharmakonzerne oft nicht mehr profitabel genug. In anderen europäischen Ländern existieren diese Preisregelungen nicht, weshalb Medikamente dort deutlich teurer, aber besser verfügbar sind.
Engpässe bei Kindermedikamenten: Pharmakonzerne sollen finanzielle Anreize bekommen
Im Sommer 2022 hatte Bundesgesundheitsminister Lauterbach als Maßnahme bereits angekündigt, dass Krankenkassen ab sofort 50 Prozent mehr für Generika zahlen sollten. Die Profite der Pharmakonzerne sollten damit erhöht und diese im Gegenzug dazu bewegt werden, ihre Generika in Deutschland statt im europäischen Ausland zu verkaufen.
Obwohl die Bundesregierung mit dem sogenannten „Anti-Engpass-Gesetz“ im April 2023 das Problem beheben wollte, hat sich nichts geändert. Im Handelsblatt sagt Seyfarth vom Hessischen Apothekerverband dazu: „Das Gesetz gegen Lieferengpässe entfaltet keinerlei Wirkung. […] In Bezug auf die Versorgungssicherheit hat sich nichts verändert.“
Fitnesstrends von Oprah Winfrey und Elon Musk
Lieferengpässe bei Diabetes-Medikamenten wie Trulicity und Ozempic werden zudem durch den weltweiten Hype um deren gewichtsreduzierende Wirkung verstärkt. Obwohl die Mittel ursprünglich für Typ-2-Diabetiker entwickelt wurden, nutzen viele sie als „Abnehmspritzen“, was die Nachfrage enorm steigerte. Die Beliebtheit wurde auch dadurch an
geheizt, dass prominente wie Oprah Winfrey und Elon Musk die Spritzen nutzten. Die steigende Nachfrage belastet dann die ohnehin instabile Lieferkette nach Deutschland, was für Diabetiker problematisch ist. Trotz einer Richtlinie, die die Verschreibung auf Diabetes-Patient:innen beschränkt, blieb die Knappheit bestehen.
Sowohl betroffene Patient:innen als auch Apotheker:innen berichten von den akuten Problemen durch die Engpässe. Apotheker:innen raten ihren Patient:innen teilweise, ihre Rezepte mit einer Vorlaufzeit von einem Monat einzureichen, damit die Chance steige. Eine Sicherheit biete das trotzdem nicht. In Selbsthilfegruppen stellten sich alle die gleiche Frage: „Wann bekommen wir wieder etwas?“. Die Unberechenbarkeit sei „der Horror“, erzählt ein Betroffener gegenüber dem SPIEGEL.