Spätestens seit den jüngsten Angriffen Israels auf die Hisbollah und den Libanon hat der imperialistische Stellvertreterkrieg begonnen. Für fortschrittliche Bewegungen in Ländern wie Deutschland stellt sich die Frage, mit wem es sich nun auf der Straße zu solidarisieren gilt, um für ein gerechtes Kriegsende einzutreten. – Ein Kommentar von Ahmad Al-Balah.
Nach fast genau einem Jahr lenkt Israel seinen Krieg vom weitestgehend zerstörten Gazastreifen und einer bedeutend geschwächten Hamas im Süden Palästinas hin zur libanesischen Hisbollah im Norden. Für Israel geht es derzeit darum, seine imperialistische Vormachtstellung in Westasien zu behaupten. Diese war zuletzt vom Hamas-geführten palästinensischen Widerstand, vom Iran sowie der „Achse des Widerstands“ angegriffen worden.
Infolge des 7. Oktober 2023 begann nicht nur der Krieg zwischen Israel und der Hamas, sondern auch die Auseinandersetzung zwischen der Hisbollah und Israel an Intensität zuzunehmen. Darüber hinaus flammte auch der schlummernde imperialistische Krieg zwischen Israel und dem Iran immer deutlicher auf: Israel bombardierte die iranische Botschaft in Damaskus und provozierte mit der Tötung des politischen Führers der Hamas, Ismael Haniyeh, in Teheran einen offenen Konflikt. Iran hatte mit dem daraufhin angekündigten Drohnen- und Raketenangriff auf Israel begrenzt reagiert und die große Eskalation damit vorerst vermieden.
Die Hisbollah wiederum hatte ihre Angriffe als Reaktion auf Israels Krieg gegen die Hamas dabei knapp ein Jahr lang auf Gebiete im Norden Israels begrenzt. Der israelische Staat sah sich nichtsdestotrotz gezwungen, Teile der israelischen Bevölkerung von dort zu evakuieren. Als Reaktion auf die israelischen Pager-Anschläge und immensen Raketenangriffe auf militärisches Personal sowie die Infrastruktur dehnt auch die Hisbollah ihre Angriffe aus: erstmals seit einem Jahr fanden Angriffe auf die Hafenstadt Haifa und Militärkomplexe in Israel statt.
Explodierende Funkgeräte und Bombardierungen im Libanon: Israel erklärt „neue Phase“ des Krieges
Kurzer Abriss des Kriegs
Die Auseinandersetzung zwischen Israel und dem Libanon geht weit zurück: Schon 1982 – infolge von Angriffen auf israelische Diplomat:innen im Ausland – marschierte Israel im Verlauf des libanesischen Bürgerkriegs in den Libanon ein. Ziel der Operation war es, den dortigen Hauptsitz der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zu vernichten und eine „Sicherheitszone“ zu errichten. Im Zuge dessen begingen die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) ein Massaker in Beirut und besetzten den Grenzstreifen zum Libanon.
Die Hisbollah gründete sich um 1982 als Reaktion auf den Bürgerkrieg im eigenen Land und Israels Invasion aus militanten schiitischen Strömungen mit Unterstützung des Iran. Im Libanonkrieg 2006 forderte die Hisbollah Israel praktisch heraus. Die Gründe und Forderungen variieren zwischen palästinensischem Befreiungskampf, der Rückverlegung der israelischen Grenze und der Befreiung schiitischer Gefangener. Seitdem lauern beide Seiten auf den richtigen Moment, um die Gegenseite anzugreifen. Der Iran hatte dabei immer wieder seine Hände im Spiel.
Es herrscht Krieg zwischen Israel und der Hisbollah
Seit der Eskalation Israels und der Antwort der Hisbollah ist eine neue Phase des Kriegs in Westasien eingetreten: ein offener Krieg zwischen Israel und der Hisbollah. Die libanesische Armee und der offizielle libanesische Staat halten sich derweil zurück und beschränken sich darauf, sowohl Israel als auch die Hisbollah zu kritisieren. Derweil existiert die Gefahr einer israelischen Invasion in den Südlibanon, inklusive einer Besetzung der Grenzgebiete. Aufgrund der Stärke, Geografie und der Verbündeten der Hisbollah dürfte dieser Krieg – falls er denn völlig eskaliert – eine noch größere Dimension einnehmen als bereits der Krieg in Gaza, das von Israel weiterhin bombardiert wird.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sandte deshalb am Montag eine kurze Videoerklärung an das libanesische Volk: Darin behauptet er, „Israels Krieg“ sei „nicht gegen sie“ gerichtet, „sondern gegen die Hisbollah“. Die Hisbollah habe sie schon viel zu lange als „menschliche Schutzschilde benutzt“. Und israelische Beamte sagten, der jüngste Anstieg der Luftangriffe auf Ziele der Hisbollah im Libanon ziele darauf ab, die mit dem Iran verbündete Gruppe zu zwingen, einer diplomatischen Lösung zuzustimmen.
Das israelische Kalkül: die militärischen Fähigkeiten der Hisbollah durch die Tötung von Kommandeuren, Angriffe auf deren Infrastruktur und des Arsenals dermaßen zu schwächen, dass der Hisbollah keine andere Möglichkeit bleibt, als sich dem Willen Israels zu unterwerfen. Die USA stellen sich derweil gegen diesen Ansatz. Sie befürchten, in einen regionalen Krieg hineingezogen zu werden, der auch den Iran zur Kriegspartei machen könnte.
Währenddessen flüchten die Einwohner:innen aus dem Südlibanon massenhaft vor Israels Bomben. Nasser Yassin, der libanesische Minister, der die Krisenreaktion koordiniert, sagte gegenüber Reuters, dass 89 Notunterkünfte in Schulen und anderen Einrichtungen aktiviert worden seien, mit einer Kapazität für mehr als 26.000 Menschen, während Zivilist:innen vor den „israelischen Gräueltaten“ zu fliehen versuchten.
Die israelische Luftwaffe meldete am Montag, etwa 1.600 Hisbollah-Ziele im Südlibanon und in der Bekaa-Ebene angegriffen zu haben. Auch auf die Hauptstadt Beirut flogen Raketen. Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums wurden durch Israels Angriffe mindestens 558 Menschen getötet, darunter 50 Kinder, wie Al Jazeera berichtet. Ungefähr 1.835 Personen seien bislang verletzt worden. Die Zahlen steigen derzeit rasant.
Wohin mit Solidarität, Protest und Kampf?
In Anbetracht dieser Zahlen erscheint es nur folgerichtig, sich gegen die israelischen Kriegstreiber:innen zu stellen. Aus der Sicht unseres Klassenstandpunkts ist der Angriff Israels auf die Hisbollah und den Libanon ein imperialistischer Krieg, da es Israel einzig und allein um die Aufrechterhaltung und Ausweitung seiner Vormachtstellung in der Region geht. Dies bringt Tod und Elend über alle Menschen in der Region, in letzter Konsequenz auch über israelische Arbeiter:innen in Israel selbst, zumal diese für die Interessen der Herrschenden in Israel an der Front verheizt werden.
Für uns als fortschrittliche sozialistische Kräfte in Deutschland bedeutet das gleichzeitig, nicht nur die Arbeiter:innenklasse in Deutschland einzutreten, sondern weltweit. Denn nur gemeinsam ist eine Umwälzung der Verhältnisse, eine Ende imperialistischer Kriege möglich. Dabei ist die Arbeiter:innenklasse in Deutschland selbst international zusammengesetzt. Das heißt ganz praktisch, dass wir hier gemeinsam mit unseren Klassengeschwistern die internationale Solidarität und den Internationalismus verteidigen – so wie wir es auch schon im Fall der Palästinenser:innen tun.
So heißt es beispielsweise in einer Erklärung der Föderation Klassenkämpferischer Organisationen: „Das Ende der israelischen Besatzung ist notwendig, um den Weg zur Befreiung der Region im Sozialismus zu ebnen.“ Ferner heißt es, die nationale Selbstbestimmung der Palästinenser:innen zu verteidigen bedeute jedoch „keinesfalls eine aktive Unterstützung der Hamas oder anderer rückschrittlicher oder fundamentalistischer Kräfte.“ Damit wären wir bei der Frage, wie die Rolle der Hisbollah in diesem Krieg zu bewerten ist und inwiefern das iranische Regime dort mitwirkt.
Gegen die Vereinnahmung des Narrativs der „Achse des Widerstands“
Der Iran ist ein faschistisches Regime, das schon 1979 zehntausende fortschrittliche und revolutionäre Menschen in den Gefängnissen massakriert hat. Seitdem, gerade in den letzten Jahren, hat dies immer stärkere Proteste unterdrückter Teile der iranischen Bevölkerung nach sich gezogen, wie im Fall Amini unter der Losung „Jin Jiyan Azadi“ („Frauen Leben Freiheit“). Diese wurden und werden aufs Schärfste niedergeschlagen.
Trotzdem nehmen die Proteste von Mal zu Mal zu und es scheint inzwischen möglich, dass das Regime im Iran durch einen antifaschistischen Volksaufstand hinweggefegt wird. Deswegen stehen wir auf Seiten der Arbeiter:innen und Werktätigen und unterdrückten Minderheiten zusammen gegen den Faschismus.
Der Iran – im Zuge seiner regionalen Machtausbreitung – nutzt die israelische Besatzung Palästinas propagandistisch für seine Zwecke und hat mit der sogenannten Achse des Widerstands ein Netzwerk von politischen Kräften und Milizen aufgebaut, das er dominiert.
Die Hisbollah wiederum ist aufgrund ihrer Größe und Stärke der zentrale Teil dieser iranisch-schiitischen „Achse des Widerstands“ und bildet in den schiitisch-dominierten Teilen des Libanon einen de-facto Staat. Sie ist eine politische Partei, besitzt die vermutlich stärkste nicht-staatliche Miliz der Welt und betreibt ein umfangreiches Sozial- und Gesundheitswesen. Damit besitzt sie übergreifend mehr Macht als der offizielle libanesische Staat.
Die Hisbollah basiert auf einer halb-feudalen, halb-kapitalistischen Klassenstruktur, die sich stark nach Familien-Clans organisiert. Sie selbst verfolgt ihre eigenen Interessen, nämlich die des schiitischen Kapitals im Libanon und sind deswegen in einem Bündnis mit dem imperialistischen, schiitischen Iran. Dieses verfolgt das größere Ziel einer schiitisch-geprägten Vormachtstellung in Westasien.
Dabei konkurrieren sie vor allem mit Saudi-Arabien und Israel. Das Ganze spielt sich vor dem Hintergrund eines sich abzeichnenden imperialistischen Weltkriegs ab. Darin wird Israel von den USA und Deutschland, der Iran von Russland und China unterstützt. Daher war und ist die Unterstützung des palästinensischen Befreiungskampfs durch die Hisbollah den eigenen Zielen untergeordnet und durch taktische Erwägungen bestimmt.
Solidarität üben, heißt sich gegen reaktionäre Kräfte behaupten
Das Argument, der gesamte Libanon, inklusive der Hisbollah, kämpfe für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen, muss daher zurückgewiesen werden. Eine antimilitaristische Arbeiter:innenbewegung muss sich nichtsdestotrotz gemeinsam gegen den imperialistischen Angriffskrieg Israels stellen. Wenn jetzt unschuldige Arbeiter:innen in der Region unter dem imperialistischen Stellvertreterkrieg leiden, dann gilt diesen unsere Solidarität.
Es besteht in Deutschland dabei vielerorts die Gefahr, von reaktionären Kräften und Strömungen (wie Hisbollah-Anhängern, Panarabisten oder Erzählungen faschistischer Regimes bspw. aus Israel oder dem Iran) vereinnahmt, mitgerissen oder übertönt zu werden. Der Freiheitskampf der Palästinenser:innen darf nicht als Feigenblatt für den zwischenimperialistischen Krieg um die regionale Vormachtstellung zwischen Israel und dem Iran herhalten müssen.
Erst am Montag hat es in Berlin einen Protest gegen die Kriegsverbrechen Israels in Palästina und Libanon gegeben. Aufgerufen hatten ein jüdischer Anti-Zionist, ein Libanese und ein Palästinenser. Dieser hatte Ähnlichkeiten zu den gewohnten palästinensischen Solidaritätsaktionen. Doch auch libanesische Fahnen und die Rufe „Freiheit für Libanon“ waren zu hören. Mehrere hundert Demonstrant:innen verschiedener Geschlechter und Altersgruppen waren gekommen. Dabei dominierten jedoch Gruppen junger Männer, die teils aggressiv an die Spitze der Aktion traten.
Noch scheinen die Solidaritätsaktionen also nach wie vor Raum für einen anti-imperialistischen Kampf zu haben. Allerdings scheinen sich, wie bei der effektiven Führung der Aktion in Berlin gesehen, rechte und nationalistische Kräfte zu etablieren.
Es bedarf daher einer starken, klassenkämpferischen Bewegung, um innerhalb der zunehmend von Nationalismus geprägten Proteste eine Perspektive abseits der Hamas, des Iran und der Hisbollah zu schaffen. Zudem muss der Kampf gegen die Herrschenden in Israel und ihren Staat unterstützt werden, nicht gegen seine gesamte Bevölkerung. Eine Aussicht auf tatsächliche Freiheit können nur die Unterdrückten aller Nationen gemeinsam erkämpfen, und zwar in ihrem Kampf gegen den fremden sowie den eigenen Unterdrücker. Sei es in Israel, Palästina, dem Libanon oder dem Iran.
Wie zuletzt beim antimilitaristischen RheinmetallEntwaffnen-Camp deutlich gemacht wurde, das sich unter anderem gegen die Waffenlieferungen an Israel richtete, sind es Revolutionen, die Kriege tatsächlich beenden. Das gilt auch für den Krieg in Westasien. Ein dauerhafter Frieden wird nur mit einem Ende der Ausbeutung und Unterdrückung in allen beteiligten Staaten erreicht werden. Die Perspektive dafür bietet der Kampf für den Sozialismus in der Region und die Unterstützung dafür in und aus Ländern wie Deutschland.
Palästinasolidarität: Wir brauchen keinen gemäßigten Aktivismus, sondern eine Revolution!
*von der Redaktion überarbeitet am Dienstag, 25.09.2024, 11:10 Uhr.