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Abnehmspritze: Warum der Aufruhr nicht abreißt – und wo er eigentlich fehlt

Ozempic und Wegovy erobern die Schlagzeilen – gefeiert als Wunderwaffe gegen Adipositas. Während Stars die Wirkung des Medikaments preisen, leiden Diabetiker:innen unter Lieferengpässen. Doch eine eigentliche Kritik an dem Hype und seinen Ursachen wird verpasst. – Ein Kommentar von Nina Bauma.

Zur Behandlung von Typ-2-Diabetes wurde der Wirkstoff Semaglutid, bekannt als Ozempic entwickelt. Er verbessert die Blutzuckerkontrolle indem er die Insulinausschüttung fördert, die Freisetzung von Glukagon hemmt und die Magenentleerung verlangsamt, was den Anstieg des Blutzuckers nach dem Essen reduziert. Zudem hat Semaglutid eine appetithemmende Wirkung, die zur Gewichtsreduktion beiträgt.

Dieser Nebeneffekt blieb nicht unbemerkt. 2021 wurde der Wirkstoff unter dem Handelsnamen Wegovy in den USA erstmals auch zur Behandlung von Adipositas zugelassen. Die Zulassung in Deutschland erfolgte durch die EU-Kommission dann im Januar 2022.

Zur Behandlung von Adipositas wird es meist einmal wöchentlich subkutan, d.h. mit einer Spritze in den Bauch, Oberschenkel oder Oberarm vom Patienten selbst verabreicht. Die gewichtsreduzierende Wirkung von Semaglutin ist beachtlich. In etwas mehr als einem Jahr verloren Studienteilnehmer rund 15% ihres Körpergewichts.

Ozempic, Wegovy und Co. machen Schlagzeilen

Mit dieser immensen Wirkung für die Gewichtsabnahme erlangten Ozempic und Wegovy nicht bloß in medizinischen Kreisen und für die Behandlung diagnostizierter Adipositas große Bekanntheit. Besonders durch Stars wie Kim Kardashian, die sich nach kürzester Zeit mit großem Gewichtsverlust und völlig veränderten Körpern zeigten, wurde die Aufmerksamkeit auf den Wirkstoff gelenkt.

Seitdem ist das Medikament als Abnehmmittel in aller Munde und es häufen sich sowohl positive als auch negative Schlagzeilen. Dabei stachen zwei Positionen heraus: Auf der einen Seite die große Chance zur revolutionären Eliminierung von Adipositas und einer Reihe weiterer Krankheiten. Auf der anderen Seite die unvorhersehbaren gesundheitlichen Gefahren für „Lifestyle“-Konsument:innen, der fehlende Zugriff für Diabetiker:innen sowie das vermeintliche Ende der „Body-Positivity“.

Doch eigentlich greifen beide Positionen zu kurz und sind ein Eingeständnis dafür, wie es um die Gesundheit in dieser Gesellschaft bestellt ist.

Übergewicht als gesellschaftliche Krankheit

Befürworter der Abnehmspritze sehen sie als große Chance: Die Chance dafür, Menschen von Adipositas und damit ebenso von ihren Begleiterkrankungen zu heilen. Diese Chance wird häufig nicht nur auf individueller Ebene besprochen, sondern als Aussicht darauf betrachtet, Adipositas zukünftig gesellschaftlich ganz zu eliminieren.

Die Effekte der Schlank-Spritze sind vielfältig: Sie kann womöglich nicht „nur“ Gewicht reduzieren, sondern auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen heilen, einen Kinderwunsch erfüllen, eine Fettleber retten und Alzheimer vorbeugen – die Liste ist lang. Die Mitbenennung dieser anderen Krankheiten wirft eine erste Frage auf. Soll damit ein attraktiver Zusatzeffekt betont werden? Oder braucht es diese Heilung weiterer Krankheiten als Legitimierung, damit nicht „nur“ das Übergewicht behandelt wird?

In der Medizin vorherrschenden Logik ist Adipositas neben einer chronischen Ernährungs- und Stoffwechselerkrankung vor allem eines: eine Krankheitsursache – unter anderem für Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes oder eine Fettleber.

Als sogenannter Zivilisationskrankheit können Adipositas vielfältige Faktoren zugrunde liegen – darunter eine ungesunde Ernährung, Stress, Schlaf- und Bewegungsmangel, genetische Faktoren, depressive Erkrankungen, Medikamente und und und. Da diesen Faktoren die Mehrheit der Menschen ausgesetzt ist, jedoch längst nicht alle mit einem als krankhaft eingestuften BMI (Body Mass Index) reagieren, werden sie lediglich als voneinander unabhängige Risikofaktoren behandelt. Die eigentliche Ursache wird stattdessen im Körper bzw. am Menschen selbst gesucht.

Die Ursache bleibt bestehen

Die Krankheitsursache beginnt also an der Stelle, an der der Körper krankhaft auf seine Umgebung reagiert. Worauf der Körper da eigentlich reagiert, interessiert dabei nicht so sehr, wie dass er es tut. Insbesondere nicht bei einer „mulitkausalen“ Erkrankung wie Adipositas.

Bei solchen Körpern, die auf ihre Lebensumstände mit Übergewicht reagieren, muss also nachgeholfen werden. Und praktischerweise können mit dem ungewollten Übergewicht gleich die genannten Begleiterkrankungen mit ausgemerzt werden. Und zwar nicht, indem man diese „Risikofaktoren“ angeht, sondern das Symptom, das Übergewicht des Patienten.

Da kommt Semaglutid mit einer schnellen und universellen Lösung ins Spiel: es kontrolliert den Blutzuckerspiegel, hemmt das Hungergefühl und ermöglicht so eine schnelle Gewichtsabnahme. Dies tut Semaglutid jedoch nur so lange, wie man es auch einnimmt. Der revolutionäre Charakter in der Eliminierung von Adipositas soll also darin bestehen, dass (wohlgemerkt alle) Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – an Adipositas leiden, sich lebenslänglich eine appetithemmende Spritze einführen und dafür wöchentlich 40-80€ ausgeben.

Ob es in dem Hype um Ozempic und Co. wirklich primär um die gesundheitlichen Erfolge geht, ist jedoch mehr als fragwürdig. Bekanntheit erlangte das Medikament schließlich vor allem mit der Aussicht darauf, in kürzester Zeit effektiv sehr viel abzunehmen und damit ein Schönheitsideal zu erreichen, dem viele Menschen die meiste Zeit vergebens nacheifern. Ozempic wirkt so attraktiv, da es ein Versprechen dafür ist, den Kampf um den perfekten Körper endlich, und zwar sehr schnell zu gewinnen. Es ist die erste Diät, die scheinbar ohne Anstrengung, Willensstärke und Verzicht möglich ist – und trotzdem Erfolg verspricht.

Doch die Kritik daran hat das andere Lager sowieso längst entgegnet.

Übergewichtige nehmen Diabetiker:innen Medikamente weg?

Ein Teil der Kritik wurde anfangs als Sorge formuliert, mittlerweile ist sie ein Fakt. Das Medikament ist in vielen Apotheken ausverkauft und es bestehen Engpässe für die Versorgung von Diabetespatient:innen. Als ein Grund dafür wird häufig der „off label“-Verkauf angeführt, also der Verkauf an Kunden, die das Mittel nicht für eine der zugelassenen Indikationen (Diabetes-Typ-2, Adipositas, Übergewicht mit Begleiterkrankung) erwerben. Der Vorwurf besteht darin, dass Menschen das Medikament denen wegkaufen, die es eigentlich dringend benötigen und für die es eigentlich gedacht ist.

Unzählige Medikamente fehlen – Reform entfaltet keine Wirkung

Dass es tragisch ist, wenn Menschen nicht an für sie notwendige Medikamente kommen, steht außer Frage. Dass nicht sichergestellt wird, dass sie es tun, wird aber überhaupt nicht weiter hinterfragt. Auf den Grund geht man dem Engpass sowieso meistens gar nicht –  es wird lediglich impliziert, dass der neue Absatzmarkt für Abnehmwillige Schuld ist.

Dabei tut sich an diesem Versorgungsengpass eigentlich eine gute Möglichkeit auf. Man könnte einmal ernsthaft ergründen, wie es denn möglich ist, dass das Medikament, auf welches Patient:innen angewiesen sind so plötzlich nicht mehr verfügbar ist, obwohl es erwiesenermaßen hilft.

Der Trugschluss besteht darin, das Medikament Ozempic sei für Diabetiker:innen entwickelt worden. Zwar eignet es sich für die Behandlung von Diabetikern und wird dementsprechend auch produziert. Wäre es jedoch das Ziel, Diabetiker:innen Zugriff zu einem Medikament zu verschaffen, wäre es doch aber logisch auch sicherzustellen, dass die Produktion auf die für die Betroffenen notwendigen Mengen abgestimmt und der Zugriff darauf gesichert ist.

Dass dies nicht der Fall ist, bestätigt hingegen, dass es dabei um etwas anderes geht: Ziel der Produktion von Unternehmen ist eben nicht die Sicherstellung menschlicher Bedürfnisse. Unternehmen produzieren um Profit zu generieren und dafür benötigen sie Konsumenten, die ihre Produkte kaufen. Irgendeinen Nutzen braucht es natürlich, damit Menschen das tun. Was der Nutzen ist und wer die Medikamente kauft, ist für den Zweck des Unternehmens letztendlich egal; dass sie gekauft werden ist entscheidend. Und je mehr Käufer sich finden, desto besser.

Eine Empörung darüber, dass Diabetiker:innen nicht an ihre Medikamente kommen, wäre anstatt an egoistische Abnehmwahnsinnige, besser an jene Wirtschaftsweise gerichtet, die so ein Dilemma zustande bringt.

Lifestyle oder gesellschaftlicher Druck?

Gleichzeitig impliziert die Kritik aber noch einen weiteren Punkt. Die Empörung ist gerade bei diesem Medikament so groß, weil es bei den Käufer:innen vermeintlich nicht um ernsthaft Erkrankte geht, die das Medikament tatsächlich bräuchten, sondern lediglich um Lifestyle-Konsumenten. Dieser „Lifestyle“ ist tatsächlich mit Sorge zu betrachten.

Vielen Menschen scheint das Bedürfnis, Gewicht zu verlieren eine so ernste Angelegenheit zu sein, dass sie dazu bereit sind, schwere Folgen in Kauf zu nehmen. Dazu zählt ein Antidiabetikum zu kaufen, sich dieses wöchentlich zu spritzen und damit eine Reihe von Gesundheitsrisiken einzugehen. Ebenso wie die Folgen, die aus üblichen Diäten bekannt sind – wie starke Gewichtsschwankungen oder auch die Entwicklung einer Essstörung. Und das alles tun sie in dem Wissen, dass dies überhaupt keine langfristige Veränderung ihres Körpers sicherstellt.

Die Not und die Dringlichkeit, die sich darin ausdrückt, ist mit „Lifestyle-Entscheidung“ nicht wirklich zu greifen.

Zwar werden einige dieser Risiken aus Teilen der Kritiker:innen ebenfalls angeführt. Dies geschieht jedoch vorwiegend unter dem Vorwurf der falschen Schönheitsideale, gekoppelt mit dem Aufruf zur Akzeptanz aller (solange noch gesunden) Körperformen und -größen – Stichwort Body Positivity.

Die Realität sieht anders aus: „All bodies are beautiful“ ist nur ein Kompromiss. Nicht alle Körper werden so gesehen. Trotzdem müssen sich alle ständig behaupten und mit anderen konkurrieren. Viele sind davon abhängig, Anerkennung zu bekommen um ihren Wert als Person zu fühlen. Sie müssen sich dem Druck beugen und sind oft bereit, dafür alles zu tun. Das wäre eine Kritik wert.

Statt die Fragen zu klären, ob Semaglutid ein neues Wundermittel ist oder den Zugang für Diabetiker:innen gefährdet, zeigen diese Debatten vor allem, wie es um die Gesundheitsversorgung vieler Menschen steht. Probleme wie fehlender Medikamentenzugang, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Alzheimer, Adipositas und belastende Schönheitsideale haben tiefere Ursachen, die nicht durch einen Wirkstoff gelöst werden können. Semaglutid macht jedoch deutlich, wie ernst diese Probleme sind und wie dringend es ist, die gemeinsamen Ursachen anzugehen.

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