Kahle sterile Räume, verschlossene Türen, Neonröhrenlicht und weiße Pillen in bunten Mehrwegbechern – das ist wahrscheinlich das Bild, das die meisten Menschen von psychiatrischen Kliniken im Kopf haben. Drei Monate in einer akut-psychiatrischen Station haben mir gezeigt: Das Bild stimmt. Doch es ist noch viel schlimmer. – Ein Kommentar von Alexandra Baer.
Drei Monate in einer offenen akut-psychiatrischen Station. Drei Monate zerkochte Zucchinis, Abendessen am späten Nachmittag, Matratzen mit Plastiküberzug und Wandkalender mit Sprüchen wie „Es gibt viele bunte Farben, warum immer alles schwarz sehen?“. Drei Monate, die mit dem Satz „die schlimmste und beste Zeit meines Lebens“ beschrieben werden können. Warum ich damit noch Glück gehabt habe und warum viele andere Menschen weniger positiv über ihre Erfahrungen in Psychiatrien sprechen, darum soll es hier gehen.
Zu wenige Betten, Zwangsfixierungen, kein Ausgang und Isolierung
Unmittelbaren Zugang zur Psychiatrie erhalten nur Menschen, die akut suizidgefährdet sind. Das ist zunächst auch richtig so. Jedoch kann es nicht sein, dass Menschen, die (noch) nicht suizidgefährdet sind, aber sich dennoch in einer psychischen Krise befinden oder Unterstützung bei psychischer Erkrankung benötigen, lange Zeit auf einen Klinikplatz warten müssen. Die Wartezeiten betragen meistens mindestens sechs Monate – oft eher länger.
Für Menschen, die aufgrund ihrer Selbstmordgefährdung in die Klinik aufgenommen werden, ist dann oft nur ein Bett in der sogenannten „geschlossenen Station” frei. In einer geschlossenen Station können die Patient:innen nicht einfach ihr Zimmer und die Station verlassen, sondern sind dort erst einmal eingesperrt. Nach 48 Stunden braucht es dann einen richterlichen Beschluss, falls die Menschen dort gegen ihren Willen festgehalten werden sollen.
Eine geschlossene Station bedeutet oft die Isolierung in nach Urin stinkenden Gummi-Räumen, meist nur medikamentöse Behandlung und kaum bis wenig Zugang zu anderen Therapien, bedeutet keinen Ausgang und regelmäßig sogar Zwangsfixierung. Eine der geschlossenen Stationen in Berlin war nach Berichten einer Patientin so überbelegt, dass zwischenzeitlich sogar auf dem Flur die Betten standen.
In der forensischen Psychiatrie bzw. im Maßregelvollzug – gedacht für Personen, die eine Straftat im schuldunfähigen Zustand begangen haben und deshalb nicht im Gefängnis sitzen – sind die Zustände häufig noch schlimmer: Die nationale Stelle zur Verhütung von Folter rügte in ihrem Jahresbericht von 2023 die Mehrfachbelegungen von kleinen Räumen (Patient:innen müssten z.B. auf Campingbetten schlafen), langandauernde Fixierungen und Isolierungen. Ein Patient aus Bedburg-Hau lebt beispielsweise bereits seit zehn Jahren in einem nur sporadisch eingerichteten „Isolierraum“.
Forensische Psychiatrie: Die Hölle für Patient:innen und Angestellte
Der ehemalige Chefarzt des Berliner Maßregelvollzugs, Sven Reiners, hatte im April diesen Jahres seinen Job deshalb aus „Gewissensgründen“ gekündigt: Er berichtete gegenüber dem Spiegel, dass Patient:innen auf dem Fußboden schlafen müssten, das Pflegepersonal ausgebrannt und unterbesetzt sei, Therapien wegen der schlechten räumlichen Bedingungen nicht angeboten werden könnten und die Gewalt gegen das Personal zunähme.
Patient:innen in der Forensik erhalten zudem auch „Arbeitstherapie“, die nach Angaben einiger Kliniken freiwillig sein soll. Einen Lohn gibt es nicht – die Patienten bekommen als „Anerkennung“ in der Regel 80 Cent bis 1,20 Euro in der Stunde. Das Bundesverfassungsgericht urteilte hingegen schon Anfang 2024, dass Stundenlöhne in Gefängnissen von 2-3 Euro pro Stunde verfassungswidrig seien.
Zu wenig Personal in Hälfte der Kliniken
Aber auch auf den offenen akut-psychiatrischen Stationen gibt es vielfältige Probleme. Zwar können sich die Patient:innen in der Regel frei bewegen, und es gibt oft, aber nicht immer, mehr Therapieangebote. Es fehlt aber in vielen Kliniken an Personal. In etwa 50 Prozent der Kinder- und Jugendpsychiatrien und fast 40 Prozent der psychiatrischen Kliniken wird weniger Personal eingesetzt als gesetzlich vorgesehen ist – obwohl selbst das nicht dem tatsächlichen Bedarf entspricht.
Dies spüren die Patient:innen am eigenen Leib: Therapien fallen immer wieder aus, das Ärzt:innenteam ist unterbesetzt – auf meiner Station z.B versorgte teilweise nur 1 Arzt über 30 Patient:innen – und die Pflege kann meist nur die allernötigsten Aufgaben bewältigen. Am Wochenende und an Feiertagen waren auf meiner Station nur zwei Pflegepersonen für mehr als 30 Patient:innen eingeteilt – mit der Folge, dass nur die üblichen Aufgaben wie Medikamente- und Essenausgabe erledigt und die Notfälle versorgt werden konnten. Die anderen Patient:innen fallen hintenüber und das eingesetzte Personal kann aufgrund von Überarbeitung und Nachtschichten kaum noch fachlich angemessene Arbeit leisten.
Bundesauswertung zeigt: Viel zu wenig Personal in der Psychiatrie
Fast ein Drittel aller Patientinnen erleben sexualisierte Übergriffe
Studien zeigen, dass auch sexualisierte Übergriffe in Psychiatrien keine Einzelfälle sind: Bei einer webbasierte Umfrage unter Patientinnen psychiatrischer Angebote gab fast die Hälfte der Befragten an, während ihres stationären Aufenthalts sexuelle Übergriffe erlitten zu haben. Bei einer Befragung von Patient:innen in Süddeutschland berichtete fast ein Drittel aller Frauen von sexuellen Übergriffen während ihrer stationären oder ambulanten Behandlung (Männer: 11 Prozent). 6 Prozent der Frauen berichteten von sexuellen Übergriffen durch das Personal selbst (Männer: 1 Prozent).
Auch auf meiner Station gab es Berichten meiner Mitpatientinnen zufolge sexualisierte Übergriffe vom Personal: Ein Pfleger z.B. habe eine junge Frau ungefragt angefasst und auf ihren Protest hin nicht losgelassen, so die Betroffene. Eine andere junge Frau berichtete, dass derselbe Pfleger sie beim Umziehen beobachten wollte. All dies ging unter dem Radar der Pflegeleitung und Ärzt:innen vonstatten. Zwar haben die Betroffenen diese informiert – dennoch kann es nicht sein, dass es überhaupt zu sexualisierten Übergriffen kommt. Gerade auf akut-psychiatrischen Stationen, auf denen sich die Patient:innen in besonders vulnerablen Lebenssituationen befinden, muss verhindert werden, dass das Personal oder auch Mitpatient:innen diese ausnutzen können – gerade deshalb, weil Patientinnen in Psychiatrien im Vergleich zu allen anderen Frauen bereits zuvor 10 Mal häufiger Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind (Stand: 2022). Bei einer erneuten Erfahrung mit sexualisierter Gewalt besteht bekanntermaßen das hohe Risiko einer Retraumatisierung – mit gravierenden Folgen für den weiteren Krankheitsverlauf.
Hätten die Betroffenen auf meiner Station nicht den Mut gehabt, die Vorfälle an die Pflegeleitung weiter zu geben, wären diese womöglich nie zur Sprache gekommen. Und selbst wenn der übergriffige Pfleger gefeuert würde: wer garantiert, dass er sich nicht auf einer anderen Station oder in einem anderen Bundesland einen Job suchen und dort ungehindert so weitermachen kann?
Gesundheit statt Profite
Wenn ich als psychisch kranke Person träumen darf, dann träume ich von einem Gesundheitssystem, das genug Personal beschäftigt, genug Betten bereit stellt und alle diejenigen, die dort arbeiten, gut bezahlt und gut behandelt. Ein Gesundheitssystem, in dem die Selbstbestimmung der Patient:innen an oberster Stelle stellt, in dem die körperlichen Grenzen aller respektiert werden und in dem ich keine Angst haben muss, mit einem Pfleger allein in einem Raum zu sein.
Dieses Gesundheitssystem sollte jedoch kein Traum bleiben: Wir alle – Patient:innen und Personal, Ärzt:innen und Pflege, Angehörige und Betroffene – müssen gemeinsam dafür kämpfen, unser Gesundheitssystem zu verbessern und zu verändern – dahingehend verändern, dass es nicht die Krankenkassen und privaten Unternehmen hinter den Kliniken sind, welche die Entscheidungen treffen. Damit nie wieder der Tod eines:r Patient:in riskiert wird, um freie Betten zu schaffen. Wir müssen gemeinsam für eine Welt kämpfen, in der Menschen mehr wert sind als die Profite und niemand an den Krankheiten anderer verdient.