Deutschland feierte unlängst seine Wiedervereinigung. Das Leipziger Solidaritätsnetzwerk bot dabei ein Kontrastprogramm zum bundesdeutschen Nationalfeiertag. Aber die Zukunft blieb dabei nicht unbeachtet. – Ein Bericht von Johann Khaldun.
Es regnet. Die Atmosphäre ist gedämpft. Die nassen Straßen reflektieren gebrochen durch ihren Schmutzfilm einen grauen, wolkenverhangenen Himmel. Es ist ein ganz normaler Herbstnachmittag im Leipziger Stadtteil Lindenau. Aber einen Unterschied gibt es doch: es ist der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit. Vor 34 Jahren haben sich die beiden deutschen Staaten, die aus dem barbarischen deutschen Ansturm um die Weltherrschaft hervorgegangen sind, an diesem Tag wieder zu einem verbunden.
In den bürgerlichen Medien ist das ein Feiertag, an dem wir die endlich wiedergewonnene, nun ungebrochene nationale Identität und ihren staatlichen Ausdruck gewonnen haben. Im Radio, TV und im Internet herrscht die für diesen Tag übliche Mischung aus nationalistischer Hochstimmung und schaurigen Horrorgeschichten über den ostdeutschen „Unrechtsstaat“. Der Kontrast zwischen ideologischer und wirklicher Wetterlage steht aber nicht für sich, sondern weist auf die tieferen Widersprüche hin, die bis heute zwischen den beiden Seiten des einen deutschen Staates erhalten sind.
Der Versuch, es besser zu machen – 75 Jahre Deutsche Demokratische Republik
Das sind Gedanken, die sich auch das Leipziger Solidaritätsnetzwerk gemacht hat, als es seine Aktionen zu diesem Tag plante: Schon vor dem Eintreten des eigentlichen „Festtags“ hat das Solinetz mit Umfragen, einer Kundgebung und einem Stammtisch die Anschauungen der Menschen im Stadtteil zur Wiedervereinigung in Erfahrung gebracht. Jetzt wurde die Aktionsreihe mit einer Ausstellung zu einem spannenden Abschluss gebracht. Perspektive Online war dabei, um darüber zu berichten.
Mahnende Ruinen und die Geister der Vergangenheit
Die Ausstellung findet in den Räumen des sozialen Zentrums „Clara Zetkin“ (SZ) statt – auf das schon wenige Tage nach der Veranstaltung ein Angriff verübt werden sollte. Aber von diesem kommenden Ärgernis ist heute noch nichts zu spüren. Im Gegensatz zum betrüblichen Wetter auf den Straßen herrscht im Innern des SZ eine freundliche Stimmung. Um einen großen Tisch herum sitzen, vertieft in offenbar intensive Gespräche, Gäst:innen und Veranstalter:innen paarweise zusammen: es werden Umfragen durchgeführt. Am Ende des Raums hängen die Ausstellungsbilder und im Raum verteilt wurden Texte zu verschiedenen Themen angebracht. Auf Tischen am Eingang werden Info-Materialien, Kuchen und warme Getränke angeboten.
Mit einem Stück Kuchen und einem heißen Kaffee in der Hand gehe ich zur Ausstellungswand: Die Exponate bilden die Veränderungen des Stadtbilds im Leipziger Westen der letzten Jahrzehnte ab. Einstige Industriestandorte kamen zum Erliegen und blieben – wie Mahnmale an eine Vergangenheit, die eine bessere Zukunft anzukündigen schien – in der Stadt stehen. In einem der aushängenden Texte dazu heißt es: „Es ist mehr als erstaunlich zu sehen, wie ein Industriezweig so großen Ausmaßes innerhalb einer Generation völlig in Vergessenheit geraten kann.“
Viele Städte im Osten Deutschland tragen auch heute noch in der Namensgebung ihrer Straßen die Spuren einer kämpferischeren Vergangenheit. Der Klassenkampf, der damals, in den zwanziger und dreißiger Jahren, wie ein Lavastrom die Straßen entlang walzte, der Klassenkampf, der heute viel zu oft nur durch die einseitigen Angriffe durch Kapital und bürgerliche Politik sichtbar ist, wird so immer wieder in Erinnerung gerufen. Aber zu wenig ist bekannt, um wem es sich bei Menschen wie William Zipperer und Georg Schwarz überhaupt gehandelt hat.
Hier schafft die Ausstellung Abhilfe. Aushänge erinnern uns daran, dass es sich bei Zipperer und Schwarz um Kommunisten handelte, KPD-Mitglieder, die im Kampf gegen den Nazifaschismus ihr Leben für die Überwindung des Kapitalismus und damit der Wurzel des Faschismus gegeben haben: „William Zipperer und Georg Schwarz waren bedeutende Figuren in der kommunistischen und der mit ihr zusammenhängenden antifaschistischen Bewegung in Deutschland. Insbesondere während der Zeit der Weimarer Republik, der Nazi-Diktatur und für die frühen Jahre der DDR spielten sie eine wichtige Rolle. Ihre Aktivitäten und das Wirken in der Schumann-Kresse-Gruppe in Leipzig sind eng miteinander verbunden und spiegeln die sozialen und politischen Kämpfe dieser Zeit wider.“
Schumann-Kresse-Gruppe? Noch mehr Geister der Vergangenheit. Was sagt uns die Ausstellung dazu? „Die Schumann-Kresse-Gruppe war eine kommunistische Widerstandsgruppe in Leipzig, die in den 1930er Jahren gegründet wurde. Sie wurde nach den beiden Aktivisten Hans Schumann und Otto Kresse benannt und war vor allem für ihre politischen Aktivitäten und ihre Rolle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus bekannt.“ Auch über das Ende der Gruppe werden wir informiert: „Ob im Zuge der Verurteilung und Hinrichtungen in Dresden, in Zuchthäusern oder auch kurzfristigen Massakern an ganzen Gruppen von politischen Feinden der Nationalsozialisten kurz vor Kriegsende – sie wurden getötet weil sie sich gegen den Faschismus stellten.“
Die Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft schlagen
Dass diese klassenkämpferische, antifaschistische Tradition, an die uns im Osten so viele Straßennamen und diese Ausstellung erinnern, kein verblassender Schatten bleiben darf, das ruft uns der aufsteigende Faschismus um uns herum täglich ins Gedächtnis. Die Ruinen einer einst hoffnungsvollen und zuversichtlichen Vergangenheit, das Echo der Streitrufe der Klassenkämpfe vergangener Jahrzehnte müssen nicht in dieser Versteinerung verbleiben.
Das Solinetz, das sich als sozialistische Stadtteilorganisation versteht, versucht das den Ausstellungsgästen in Gesprächen näherzubringen. Ihr Verhältnis zur DDR ist kritisch. Ostalgie ist ihnen fremd. Und doch hält sie diese Kritik nicht davon ab, auch Fortschritte des untergegangenen Deutschlands aufzunehmen. Die Kritik ist gerade das Mittel dazu, dass das gelingen kann.
Ein Ausstellungstext zur Versorgung mit Kitaplätzen macht das deutlich: „In der DDR war die Versorgung mit Kindergarten- und Krippenplätzen ein zentraler Bestandteil der Familienpolitik. Die staatlichen Einrichtungen waren darauf ausgelegt, die Erwerbsarbeit von Frauen zu unterstützen und eine Gleichstellung der Geschlechter zu fördern. Die DDR-Regierung propagierte die Vorstellung, dass Frauen sowohl berufstätig als auch Mütter sein sollten. Dies führte zu einem umfassenden Ausbau von Kita-Plätzen […] Wie sich hier schon zeigt war die Vorstellung von Gleichberechtigung sehr beschränkt, denn sie reproduzierte gleichzeitig das Patriarchat. Die geschlechtliche Arbeitsteilung blieb bestehen. Frauen übernahmen weiter den überwiegenden Teil der Haus- und Pflegearbeiten, was durch den monatlichen Haushaltstag für Frauen noch weiter manifestiert wurde. In der DDR-Kultur wurden oft Rollenbilder vermittelt, die das Bild der Frau als Mutter und Hausfrau idealisierten. Dies zeigte sich in Medien, Literatur und Film, die oft die weibliche Identität stark an die Rolle der Mutter banden.“ Die Frauenbefreiung ist heute nicht abgeschlossen, und sie war es auch in der DDR nicht.
Gemeinsamer Ausbruch aus dem Gedankenkäfig
Um den großen Tisch im Zentrum der Ausstellung hat sich ein lebendiges Netz aus vielerlei Gesprächen entfaltet. Verbunden nicht nur durch die politische Absicht, sondern auch durch das ehrliche Interesse aneinander, gibt es einen regen Austausch von Erfahrungen, Ansichten und Eindrücken. Hier lernen Menschen voneinander, während sie einander kennenlernen. Ein Stück weit ist das eine Art von unentfremdeter Gemeinschaftlichkeit, wie sie der Kapitalismus immer mehr auflöst. Dass die Menschen aus dem Stadtteil hier auch als politisch handlungsfähige Persönlichkeiten ernst genommen werden, zeigen nicht nur die durchgeführten Umfragen. Das zeigt sich auch an den Kladden mit beinahe ganz weißen Seiten. Nur ein Aufruf ziert diese Blätter: „Verrate uns deine Zukunftsvision!“
Was aber sagen uns die Ausstellungstexte über die politischen Vorstellungen des Solinetzes? „Wir sind der Meinung, dass wir als Bewohner:innen unserer Kieze am besten wissen, was wir brauchen und wie wir unsere Umgebung gestalten möchten. Zudem sind wir der Meinung, dass sich die Produktion grundsätzlich nicht danach richten sollte, was einzelne wohlhabende Menschen noch wohlhabender macht. Solidarisches Zusammenleben als Gesellschaft bedeutet, darauf zu achten, dass alle bekommen, was sie zum Leben benötigen, und jeder sich einbringt, um das zu ermöglichen. Um das zu schaffen, braucht es zentrale, demokratische Planung und Koordination der produzierten Güter.“
Das sind offensichtlich große Ziele. Wir können uns das heute eigentlich kaum vorstellen. Die Macht des Kapitals, die in den letzten Jahrzehnten noch in die verborgensten Winkel unserer Leben eingedrungen ist, hat unserer Vorstellungswelt enge Grenzen gesetzt. Politische Ziele wie die des Solinetzes wirken da wie Utopien. Nach dem Selbstverständnis der Gruppe sind es aber eher bewusste Ausbruchsversuche aus dieser kapitalistischen Enge. Nicht nur die Gedanken sind frei, wir sollen es auch wirklich sein – angefangen in unseren Stadtteilen. Veranstaltungen wie diese, die für einen Moment lang einen Riss im kapitalistischen Gefängnisgemäuer eröffnen und über die unentfremdete, offene Gemeinschaftlichkeit etwas Besseres dahinter spürbar machen – solche Veranstaltungen lassen diese Ziele ein Stück weit greifbar werden.