Ein Jahr, zehntausende Tote, aber auch Hoffnung. Was hat der palästinensische Freiheitskampf der revolutionären Bewegung in Deutschland bewirkt? Der Funke des 7. Oktober – Ein Kommentar von Ahmad Al-Balah.
Noch immer tobt Krieg in Westasien. Ein Krieg, der sich aller Voraussicht nach bis in die weite Zukunft ausdehnen wird. So auch die Annahme vieler Expert:innen. Einige sprechen angesichts der israelischen Kriegsfronten (Gaza, Westbank, Libanon sowie potenziell mit dem Jemen, dem Irak, Syrien und dem Iran) von einem regionalen Krieg. Inwiefern dies –zusammen mit dem Krieg in der Ukraine und dem drohenden Krieg um Taiwan – Vorläufer eines dritten Weltkriegs darstellen, wurde an anderer Stelle bereits erläutert.
Für die fortschrittliche Bewegung hier in Deutschland ist eine andere Frage drängender, nämlich wie der Kriegsausbruch die Bewegung hierzulande geprägt hat und wie mit diesem Einfluss umgegangen wurde.
Der Funke springt über
Die Palästina-Solidaritätsbewegung hier in Deutschland ist wie verändert. In ihren Anfängen in den 1950er und 1960er Jahren war sie schon einmal eine kämpferische, säkulare bis revolutionäre Bewegung. In den 1970ern galt gar die damals marxistische PFLP als Vorbild für viele revolutionäre Kräfte weltweit, u.a. die RAF in Deutschland.
Zwischen Romantik und harter Realität: Ist die PFLP eine revolutionäre Kraft?
Mit der formellen Anerkennung Israels 1965 stellte sich die BRD im Namen der USA final an die Seite Israels. Die Repressionen gegen die Palästinenser:innen in Deutschland nahmen zu, besonders nach der versuchten Geiselnahme von München 1972. Mit dem versöhnlerischen Frieden von Oslo Anfang der 1990er stürzte nicht nur die PLO unter Yassir Arafat in eine Krise, sie nahm auch der Solidaritätsbewegung in Deutschland politisch den Wind aus den Segeln.
Zusätzlich öffnete sie Tür und Tor für den Aufstieg reaktionärer Kräfte wie der Hamas und Mahmoud Abbas‘ korrumpierter Fatah bzw. der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Israel hatte diese Schwäche forciert, ausgenutzt und die Besatzung Palästina zementiert.
Dies führte die palästinensische Freiheitsbewegung auch hierzulande in eine tiefe politische Krise. Man verlor die Richtung, Spaltungen waren die Folge. Dies paralysierte die internationale Solidaritätsbewegung. Verstärkt wurde dies durch die Angst vor der Reaktion der harten „Anti-Terror“ Linie des Westens nach dem 11. September 2001 und der zweiten Intifada Anfang der 2000er.
Intifada-Revolution
Die pro-palästinensische Bewegung in Deutschland erholte sich erst in den späten 2000er und frühen 2010er Jahren von der Lähmung. Die großflächigen israelischen Zerbombungen des Gazastreifens 2008, 2012 und 2014 weckte sie auf. In den späten 2010er Jahren erwachte die zweite, hier in Deutschland geborene Generation an Palästinenser:innen aus der Paralyse ihrer Elterngeneration und ging mit frischem Mut auf die Straßen Deutschlands.
In Deutschland gründeten sich neue Palästina-Organisationen. Die größte unter ihnen ist Palästina Spricht, die in Berlin startete und sich schnell bundesweit ausbreitete. Auch in Palästina erwachte eine neue Generation an Freiheitskämpfer:innen aus der politischen Sackgasse, in die sie von den Herrschenden (Hamas im Gaza-Streifen und die Fatah/PA in der Westbank) geführt wurden. Im Zuge dessen leisteten sie selbstbestimmten Widerstand gegen Israel.
2021 sprang dann zum ersten Mal der Funke des Freiheitskampfes von einer Bewegung auf die andere. Der „Jerusalem Uprise“ von Sheikh Jarrah im Mai 2021 führte zu einer Großdemonstration am 15. Mai (dem Nakba-Tag) in Berlin, an der 15.000 Demonstrant:innen teilnahmen. Im gesamten Bundesgebiet kam es zu Demonstrationen.
In den Folgejahren versuchte der deutsche Staat die Palästina-Solidaritätsbewegung mit Verboten, Repressionen und sonstigem zu erledigen, wie sie es in den 70ern und 80ern geschafft hatte. Doch die Faktoren sind heute andere: Die Palästinenser:innen der zweiten und dritten Generation lassen sich nicht so leicht einschüchtern und die israelischen Bourgeoisie hat bewiesen, dass man ihre nicht vertrauen kann. Auch die revolutionäre Bewegung in Deutschland als Bündnispartner ist heute etwas stärker aufgestellt als in den letzten Jahrzehnten.
So standen am 1. Mai 2021 beispielsweise mit Palästina Spricht und Migrantifa erstmals wieder politische Kämpfe im Fokus der 1. Mai-Demonstration in Berlin. Diese wurde dann auch konsequent von der Polizei zerschlagen. In der Folge hätte die deutsche Bourgeoisie es mit ihren harten Repressionen fast geschafft, die Palästina-Bewegung in Deutschland auf ein kontrollierbares Maß zu begrenzen. Die Demonstrationen am 15. Mai in den Jahren 2022 und 2023 wurden rigoros verboten. Es fanden zwar kämpferische, aber doch kleine spontane Demonstrationen statt. Dann kam der 7. Oktober 2023.
Warum das Demo-Verbot zum Nakba-Tag uns allen Sorgen machen sollte
Revival der Studierendenbewegung
Mit dem Ausbruch der Hamas aus ihrer Passivität als Verwalterin des Gazastreifens hat sie das Schachbrett umgeworfen – oder vielmehr die Schachbretter, denn die verschiedensten imperialistischen Kalkulationen sind damit über Board gegangen. Die Dynamiken zwischen Israel und dem Iran, aber eben auch zwischen westlichen Regierungen und ihrer arbeitenden Bevölkerung zeigen, dass die Palästinafrage weit über den antikolonialen Befreiungskampf hinausgehen.
Die Studierendenbewegung in den USA und Deutschland beispielsweise richten sich eben nicht einfach gegen das imperialistische Bündnis von USA und BRD mit Israel. Sie richten sich zunehmend gegen die imperialistische Politik dieser Länder selbst.
Letztendlich können die Proteste an den deutschen Universitäten als ein „weiteres Glied in der Kette von Bewegungen und Kämpfen“ betrachtet werden, die sich in den letzten Monaten in Deutschland formiert haben und zum Teil massenhaft die Politik der Herrschenden in Frage stellen, so Mohannad Lamees in seinem Kommentar im Juni dieses Jahres in der Perspektive.
Gemeinsam sei den Palästina-solidarischen Camps, den Protesten gegen die AfD, den Demonstrationen von Landarbeiter:innen und Bäuer:innen oder den zahlreichen Streiks für höhere Löhne vor allem, dass sie sich auf verschiedene Art und Weise gegen die „zerstörerischen Symptome des kapitalistischen Weltsystems“ richten.
Die Repressionen des Staates sind Zeugnis seiner Angst. Wovor? Vor der Revolution.
Die revolutionäre Bewegung hat den Ruf für ein freies Palästina vielfach aufgenommen. Nicht anders sind die starken, regelmäßigen Beteiligungen an Demonstrationen, die verschiedensten „Palästina-Cafés“ und Erklärungen zu verstehen. Erst gestern kam es wieder zu Straßenschlachten in Berlin. Was für heute, den 7. Oktober, in den Großstädten Deutschlands und der Welt zu erwarten ist, ist sowohl eine Verlängerung des Kriegs in Palästina und Libanon, als auch Teil des internationalen Klassenkampfs.
Denn mit dem Viel-Fronten-Krieg wird auch eins immer deutlicher: Israel ist auf die Unterstützung durch die USA und Deutschland angewiesen und kann darauf zählen. Das hat jedoch gleichzeitig und parallel zu den Demonstrationen den Effekt, dass sich immer größere Teile der arbeitenden Bevölkerung beispielsweise hier in Deutschland bewusster darüber werden, welche Macht sie in ihrer Zahl auf den Straßen und Betrieben innehaben: Die Macht, den deutschen Staat zu stoppen. Wie sehr der Staat Angst hat, zeigt sich in der Härte seiner Repressionen.
Mehr noch: Dachten Palästina-Aktivist:innen noch vor kurzem, der deutsche Staat lasse sich von seinem imperialistischen Kurs an der Seite Israels abbringen, der oder die weiß heute, wie die Dinge liegen. Das zeigt sich auch in der Zunahme von Parolen wie „Ich war, ich bin, ich werde sein, die Revolution wird Gaza befreien“ oder „There is only one solution: Intifada, Revolution!“ und vielen anderen, die zunehmend zu hören sind.
Ebenso treten die Aktivist:innen und Revolutionär:innen gegenüber Staatspersonal wie der Polizei selbstbewusster, mutiger und entschlossener auf. Und der Gegner lauert überall: ob in der Regierung, im Parlament, in der Tagesschau, den allermeisten Zeitungen, der Polizei, den Gerichten. Dabei hat sich in der politischen Widerstandsbewegung die Spreu vom Weizen getrennt. Die Praxis wird mehr und mehr das Kriterium der Wahrheit. Wer steht mit auf der Straße und bleibt standhaft? Wer kämpft für Freiheit und wer nicht? Das sind zunehmend fortschrittliche Arbeiter:innen und revolutionäre Kräfte.
Voranschreiten für ein freies Palästina
Doch es ist nicht alles Gold was glänzt. Aufgrund der Entwicklung der Kräfte im palästinensischen Widerstand, steht in Palästina die islamisch-fundamentalistische Hamas an der Spitze. Das wirkt sich auch auf das Bewusstsein der Palästinenser:innen hier in Deutschland aus, die die Bewegung anführen. So versuchen Kräfte in Deutschland, den Freiheitskampf zu einem Kampf Gottes umzudeuten.
Andererseits versuchen die deutschen reaktionären Herrschenden sowie letztlich die gesamte Bourgeoisie, ihre Repressionen mit der „Verteidigung der Demokratie“ und des „Kampfes gegen Antisemitismus“ zu legitimieren. Die dahinterstehende antimuslimische Hetze trägt auch dazu bei, einen Teil der Bevölkerung gegen die andere im Interesse des deutschen Staates auszuspielen.
Letztlich versuchen beide Seiten, die Welle des Augenblicks zu reiten und dabei einen „Kampf der Kulturen“ in den Vordergrund zu rücken. Dagegen gilt es, eine klare Botschaft zu vermitteln. Unser erster Kampf gilt dem imperialistischen deutschen Staat und seinen Institutionen. Währenddessen gilt es im Klassenkampf, als Teil der Palästina-Solidaritätsbewegung, Schulter an Schulter die Perspektive für diesen Kampf in die Bewegung hineinzutragen: Der Kampf für ein freies Palästina führt über den Weg der sozialistischen Revolution. Nur so können wir die Macht erlangen, den Freiheitskampf in Palästina und weltweit zu unterstützen.
Was uns der 7. Oktober vermacht hat, geht also weit über den palästinensischen Freiheitskampf hinaus. Es hat uns unsere Macht bewusst gemacht sowie die geschichtliche Notwendigkeit sie einzusetzen. Wir leben in einer historischen Zeit, in einem Abschnitt der Geschichte, in der wir selbst in der Hand haben, wohin wir schreiten.
Unsere Stärke liegt in der Überzeugung darin, wofür wir kämpfen. Und sie liegt in den Massen, die gemeinsam dafür kämpfen. „We are thousands, we are millions, we are all Palestinians” drückt diese zahlenmäßige Übermacht und das nächste Ziel aus, für das wir gemeinsam kämpfen.
Was uns vermacht wurde ist der Kampf. Die Bewegung ging von Palästina aus über die ganze Welt bis hier nach Deutschland. Richten wir ihnen gegen die Imperialist:innen hierzulande, tragen wir ihn zurück nach Palästina!
Palästinasolidarität: Wir brauchen keinen gemäßigten Aktivismus, sondern eine Revolution!