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Der Versuch, es besser zu machen – 75 Jahre Deutsche Demokratische Republik

Vor 75 Jahren wurden zwei deutsche Staaten gegründet. Während die BRD dieses Jahr schon ihren Geburtstag feiern konnte, fand die DDR 1990 ihr Ende. Sie war der Anlauf für ein anderes Deutschland. Über ihre von Widersprüchen geprägte Existenz. – Ein Kommentar von Ivan Barker.

Der Schriftsteller Ronald Schernikau war für viele seiner Zeitgenoss:innen eine skurrile Persönlichkeit. Ein Westdeutscher, der sich 1989 einen großen Traum erfüllt: Die Staatsbürgerschaft der DDR. Zuvor war es ihm durch Kontakte zu DDR-Schriftsteller:innen gelungen, in Leipzig Literatur zu studieren. Als Kommunist war er überzeugt davon, in der DDR besser arbeiten und leben zu können. Gleichzeitig kritisierte er die  DDR, wie z. B. die Bürokratie. Auch wurde er nicht von allen herzlich aufgenommen. Niemand wollte seine Abschlussarbeit verlegen, sodass sie nur in Westdeutschland erschien. Trotzdem entschied er sich für das Leben in der DDR.

Schernikaus Biografie ist etwas besonderes und kann trotzdem beispielhaft für ein nicht seltenes, widersprüchliches Verhältnis ihrer ehemaligen Bürger:innen zur DDR stehen. Auch ihre Geschichte selbst ist von Widersprüchen durchzogen. Während diese heute gern zugunsten oberflächlicher antikommunistischer Propaganda zugeschüttet werden, lohnt es sich für uns Arbeiter:innen, genauer hinzusehen. Das andere Deutschland ist ein Teil der Geschichte, welches das Bewusstsein insbesondere in Ostdeutschland weiterhin prägt und unsere Gesellschaft beeinflusst.

Gründung unter schwierigen Bedingungen

Die Deutsche Demokratische Republik bestand 40 Jahre. Die Gründung folgte am 7. Oktober 1949 auf die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im September. Damit war die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg vorläufig besiegelt.

Die Sowjetunion hatte sich zuvor für ein unabhängiges, neutrales und demokratisches Deutschland eingesetzt. Die Interessen der Westalliierten widersprachen diesen Zielen, die Deutschland vor allem als ihre Außengrenze zur Sowjetunion sahen und ihre Besatzungszonen dementsprechend befestigen wollten.

Mit dem Entstehen der DDR als deutschem Teilstaat kam es zu einem Umschwung in der politischen Ausrichtung. In den 1950er Jahren bestand der Anspruch, den Sozialismus aufzubauen. Teile der Produktion und des Handels wurden verstaatlicht und die Kollektivierung der Landwirtschaft eingeleitet. Alte NS-Funktionär:innen und Adlige wurden enteignet. Während in der BRD alte Nazi-Funktionäre mit dem Aufbau der Armee und des Geheimdienstes beauftragt wurden, fand dahingehend in der DDR eine konsequentere Entnazifizierung statt. Vor allem Beamt:innen, Mitarbeiter:innen der Justiz und Lehrer:innen aus dem Faschismus wurden fast vollständig entlassen. Die neue Gesellschaft sollte vor allem von den antifaschistischen Widerstandskämpfer:innen aufgebaut werden.

Dabei stand man aber vor vielen Problemen. Das Land war vom Krieg zerstört, es mangelte an Rohstoffen und Maschinen. Zahlreiche Antifaschist:innen und Kommunist:innen wurden im Krieg und in den Konzentrationslagern ermordet. Das Bewusstsein der restlichen Bevölkerung war stark vom Faschismus beeinflusst. Der hatte sie genau in die gegenteilige Richtung erzogen, als es für einen sozialistischen Aufbau nötig gewesen wäre.

Viele standen dennoch ehrlich hinter dem erklärten Ziel, ein neues Deutschland aufzubauen, von dem vor allem kein Krieg mehr ausgehen sollte. Auch wurden viele Grundlagen geschaffen, auf denen die Menschen eine andere Art des gemeinsamen Lebens führen konnten. Kindergärten und Schulen waren kostenlos. Es gab ein Recht auf Urlaub und breite kulturelle Angebote, deren Preise sehr niedrig gehalten wurden. Arbeitslosigkeit gab es fast gar keine, da Arbeit als Recht und Pflicht galt und in den Betrieben wurden auch die Bedingungen geschaffen.

Begrenzte Entwicklung

Trotz ausgebauter sozialer Versorgung der Arbeiter:innen blieb die DDR in ihrer Entwicklung als sozialistische Gesellschaft begrenzt. An vielen Stellen mangelte es dafür an zentralen Punkten. So war die Regierungspartei SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) vor allem zu einem bürokratischen Apparat anstelle einer revolutionären Partei geworden . Darüber hinaus gelang es nur wenig, eine wirkliche politische Aktivität und kommunistisches Bewusstsein unter den Arbeiter:innen zu entwickeln. Stattdessen wurde auf Prämiensysteme und Massenbespitzelung gesetzt um die Gesellschaft zu beeinflussen. Die besonders in Deutschland historisch gewachsene starke Obrigkeitshörigkeit wurde konserviert, anstatt sie konsequent aufzubrechen.

Patriarchale Rollenverteilungen wurden trotz Fortschritten in der ökonomischen Gleichstellung nicht abgeschafft. Besonders in der Politik waren deutlich weniger Frauen vertreten. Auch Migrant:innen erfuhren weiterhin rassistische Unterdrückung, trotz des internationalistischen Anspruches. So mussten zum Beispiel vietnamesische Arbeiter:innen, die durch Verträge mit Vietnam in die DDR kamen, in eigenen Wohnheimen abgeschnitten von der restlichen Bevölkerung leben.

Auf internationaler Ebene bestand zudem eine Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion, die sich selbst ab Mitte der 1950er Jahre schrittweise zurückentwickelte. Schlussendlich wurde hier aus einem sozialistischen Staat erneut ein kapitalistischer, der zunehmend als Imperialist auf der Weltbühne auftrat und mit den USA um Einfluss konkurrierte. Die DDR-Regierung blieb ideologisch auf Kurs der neuen Führung in der Sowjetunion und wandte sich dadurch ebenfalls immer weiter von grundlegenden sozialistischen Ideen ab.

Ende mit Schrecken

Die DDR war dennoch hinsichtlich der ökonomischen Errungenschaften für die Arbeiter:innenklasse der bisher am weitesten fortgeschrittene Staat der deutschen Geschichte. Am Ende war sie jedoch keine Gesellschaft, die sich weiter vorwärts entwickeln konnte – und sie konnte auch nicht dem Großmachtstreben der kapitalistischen Räuber aus der BRD standhalten.

In seiner Rede auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR im März 1990 sagte Schernikau: „Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt.“ Und seine Worte sollten sich bewahrheiten: Die Annexion verlangte den ostdeutschen Arbeiter:innen viel ab. Ihre Betriebe wurden verscherbelt und hunderttausende Menschen arbeitslos. Vor allem die Frauen wurden so aus der Lohnarbeit wieder herausgedrängt. Es folgte eine Deindustrialisierung, die jeden Samen für die vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ im Keim erstickte.

Auf rechtlicher Ebene kam es für die ehemaligen Bürger:innen der DDR ebenfalls zu Verschlechterungen. Der Haushaltstag wurde abgeschafft, genauso wie das Recht auf legale Schwangerschaftsabbrüche.

Aber auch für Bürger:innen der BRD hatte die Annexion ihren Preis. In den 1990er Jahren wurden verschiedene soziale Leistungen gekürzt: So wurde die gesetzliche Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von hundert auf achtzig Prozent und das Krankengeld um zehn Prozent gesenkt. Gelockert wurde auch der Kündigungsschutz, der nur noch für Betriebe mit mindestens zehn Beschäftigten gelten sollte. So wurde die Einheit Deutschlands auf dem Rücken aller Arbeiter:innen in West und Ost durchgeführt – im Interesse der Kapitalist:innen der BRD.

Zeit für einen neuen Versuch

Die DDR wird heute vor allem als Schreckgespenst für antikommunistische Propaganda aufgebaut. Anstatt sich mit ihren Errungenschaften und Fehlern auseinanderzusetzen, wird sie als zweite deutsche Diktatur bezeichnet, die Ostdeutsche heute Demokratie-unfähig macht. Sie sei ein Beweis, dass der Sozialismus gescheitert sei. Warum sollte man es also nochmal versuchen?

Unabhängig davon, wie die Situation in der DDR war – der Kapitalismus heute scheitert jeden Tag daran, der Arbeiter:innenklasse ein erfülltes Leben zu geben. Er basiert auf unserer Ausbeutung und Unterdrückung und der unserer Klassengeschwister in anderen Ländern. Die alltägliche Angst vor Arbeitslosigkeit, die schlechtere Bezahlung von Frauen, das erneute Erstarken einer faschistischen Bewegung usw. sollen uns als alternativlos verkauft werden.

Dabei zeigt selbst die von Problemen gezeichnete Geschichte der DDR: Etwas anderes ist möglich. Es ist jetzt die Zeit für einen neuen Anlauf, ein sozialistisches Deutschland zu erkämpfen. Die DDR steht dafür, was möglich war und was vieles mehr noch möglich wäre, wenn wir tatsächlich gemeinsam als Arbeiter:innen die Macht in unseren Händen halten. Auch für uns werden dafür die Bedingungen nie perfekt sein, und auch uns werden dabei Fehler passieren. Aber eine andere Wahl für ein Leben ohne Ausbeutung und Unterdrückung gibt es nicht.

Erinnerungen an die DDR

Zu 75 Jahren Gründung der DDR haben wir ein Ehepaar aus Cottbus gefragt, was ihnen besonders aus ihrem Leben in der DDR in Erinnerung geblieben ist.

Aufnahme politischer Geflüchteter

Andre Drescher, 49, sagte dazu: „Ich erinnere mich gerne an den Artikel 23 der Verfassung der DDR, Absatz 3 und deren Umsetzung: Die Deutsche Demokratische Republik kann Bürgern anderer Staaten oder Staatenlosen Asyl gewähren, wenn sie wegen politischer, wissenschaftlicher oder kultureller Tätigkeit zur Verteidigung des Friedens, der Demokratie, der Interessen des werktätigen Volkes oder wegen ihrer Teilnahme am sozialen und nationalen Befreiungskampf verfolgt werden.“

In den 1950er Jahren wurden vor allem griechische Kinder und Jugendliche aufgenommen, deren Eltern Kommunist:innen waren. Bis 1949 herrschte in Griechenland ein Bürgerkrieg, in dem die Kommunist:innen gegen die Monarchie und für nationale Selbstbestimmung, vor allem gegen den Einfluss Großbritanniens kämpften. Während des Krieges entführte die griechische Regierung Kinder von Revolutionär:innen und brachte sie auf die Gefängnisinsel Leros. Die kommunistische demokratischer Armee Griechenlands (DSE) evakuierte deshalb rund 1300 Kinder in die DDR. Nach dem Militärputsch in Chile 1973 und dem Beginn des faschistischen Regimes unter Augusto Pinochet erhielten auch tausende Chilen:innen in der DDR Asyl. Auch Verfolgte unter der Diktatur von Francisco Franco in Spanien und Palästinenser:innen fanden in der DDR Zuflucht.

Situation der Frauen in der DDR

Gabriele Salk, 56, erinnert sich an die Situation der Frauen in der DDR: „Fast alle Mütter haben wie die Väter 42,5 Stunden in der Woche gearbeitet. Die Hausarbeit haben sie noch dazu erledigt, dafür gab es aber auch einen extra freien Tag pro Monat für Mütter: Den Haushaltstag. Für Väter gab es das nicht, auch wenn sie alleinerziehend waren. Wahrscheinlich sollten diese so schnell wie möglich eine neue Mutter für die Familie finden.“

1986 lag der Frauenanteil aller Beschäftigten in der DDR bei 49,1 Prozent. Es war selbstverständlich, dass Frauen in Vollzeit arbeiteten. Um eine vollständige Beschäftigung beider Elternteile zu ermöglichen, gab es ein flächendeckendes Netz der Kinderbetreuung: Kinderkrippe, Kindergarten und Schulhort. Trotzdem wurde die Arbeit im Haushalt fast ausschließlich von Frauen übernommen. Daran änderte auch die Einführung des Haushaltstages für alleinerziehende Männer 1977 nur sehr wenig. Die rechtlichen und ökonomischen Maßnahmen allein reichten nicht aus, das Bewusstsein der Menschen zu verändern.

Im Vergleich zur BRD war die DDR ihr trotzdem einiges voraus: Erst 1980 gab es im Westen das erste Gesetz über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz. Erst ab 1969 galten verheiratete Frauen als voll geschäftsfähig. Zuvor konnte der Ehemann etwa über Fragen der Berufswahl, das Bankkonto oder den Führerschein der Frau alleine oder mitentscheiden.

Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 91 vom Oktober 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.

  • Perspektive-Autor seit 2019 sowie Redakteur der Printausgabe. Auszubildender in der Metallindustrie in Berlin und Hobbykünstler.

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