Die israelische Armee teilte am Donnerstag mit, dass Hamas-Chef Yahya Sinwar bei einer bewaffneten Konfrontation mit einer israelischen Armeepatrouille in Rafah im Kampf getötet worden sei. Der Tod von Sinwar wurde inzwischen von Hamas bestätigt. Ein Überblick zur Person Yahya Sinwars und seiner Bedeutung. – Ein Kommentar von Ali Najjar.
Am Donnerstag, den 17. Oktober, teilte der israelische Armeerundfunk mit, dass Israel den Hamas-Führer Yahya Sinwar bei einem Gefecht in Rafah im südlichen Gazastreifen getötet habe. Später am Tag meldete die israelische Armee, dass entnommene Proben von einem aufgefundenen Leichnam mit dem DNA-Datensatz übereinstimmten, den Israel von Sinwar aus seiner jahrelangen Gefangenschaft in israelischem Gewahrsam besaß.
In den sozialen Medien kursierten Bilder des Leichnams, bevor die ersten Nachrichten bekannt wurden. Die Fotos zeigten einen Mann, der Sinwar sehr ähnlich sieht, eine Militärweste trug und inmitten der Trümmer eines Gebäudes lag, mit einer deutlichen Wunde am Schädel. Am Freitag wurde der Tod des Hamas-Anführers von der Organisation bestätigt. Israelische Regierungsvertreter haben erklärt, dass die Tötung Sinwars „zufällig war und nicht auf nachrichtendienstlichen Erkenntnissen beruhte“ und dass bei der Operation keine Geiseln beteiligt waren.
Wem gilt unsere Solidarität im Krieg zwischen Israel und der Hisbollah?
Wer war Yahya Sinwar?
Sinwar war nach der Ermordung seines Vorgängers Ismail Haniyeh durch Israel Ende Juli in Teheran zum Chef des Politbüros der Hamas ernannt worden. Bis zu diesem Zeitpunkt war er Leiter der Hamas-Abteilung im Gazastreifen.
Sinwar wurde 1962 im Flüchtlingslager Khan Younis als Sohn einer Familie palästinensischer Flüchtlinge geboren, die 1948 aus ihrer Heimatstadt Askalan 21 Kilometer nördlich von Gaza vertrieben wurden. Er besuchte UNRWA-Schulen und erwarb anschließend einen Abschluss in Arabisch an der Islamischen Universität von Gaza.
Sinwar schloss sich Ende der 1980er Jahre der Hamas an und gilt als Mitbegründer des internen Geheimdienstes der Hamas, der sich später mit anderen bewaffneten Zellen zusammenschloss und 1993 die Izz al-Din al-Qassam-Brigaden, den militärischen Flügel der Bewegung, bildete. Sinwar wurde 1989 von den israelischen Streitkräften verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er Kollaborateure mit der israelischen Armee in Gaza getötet haben soll.
Im Gefängnis vertiefte sich Sinwar in das Studium der modernen hebräischen Sprache sowie der israelischen Literatur und der Geschichte des Zionismus. Während seiner Haftzeit stieg er auch in den Reihen der Hamas auf und gewann das Vertrauen palästinensischer Gefangener anderer politischer Gruppierungen, so dass er zu einer wichtigen Figur innerhalb der palästinensischen Führung in den Gefängnissen wurde. Im Gefängnis soll er sich auch einer Hirnoperation unterzogen haben, nachdem seine Behandlung durch Druck der organisierten politischen Gefangenen erreicht wurde.
Im Jahr 2011 wurde Sinwar zusammen mit 1.000 anderen palästinensischen Gefangenen im Austausch gegen den gefangenen israelischen Soldaten Gilad Shalit freigelassen, der sich seit 2006 im Gazastreifen in der Gewalt der Hamas befand. Sinwar war Berichten zufolge maßgeblich an den Verhandlungen über die Freilassung von Shalit aus dem Gefängnis heraus beteiligt. Nach seiner Freilassung wurde er zum Leiter der Hamas im Gazastreifen gewählt.
Sinwar soll eine Schlüsselrolle bei der Formulierung der Hamas-Charta von 2017 gespielt haben, in der zum ersten Mal ein palästinensischer Staat in den Grenzen vom Juni 1967 akzeptiert und die PLO als einzige legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes anerkannt wurde. Die neue Charta enthielt nicht mehr die antisemitischen Inhalte der früheren Version und bekräftigte, dass der Konflikt der Bewegung mit der zionistischen Kolonisierung Palästinas zusammenhänge. Dieser Schritt wurde als Versuch der Hamas gewertet, ihr öffentliches Image zu mäßigen und sich von der eher fundamentalistischen Rhetorik ihrer Charta von 1988 zu distanzieren.
Sinwar war auch an der Formulierung der Hamas-Initiative für einen langfristigen Waffenstillstand mit Israel im Gegenzug für die Aufhebung der Blockade des Gazastreifens beteiligt. Er schlug diese Idee wiederholt in öffentlichen Reden und Interviews vor.
Sinwars Rolle bei der Offensive vom 7. Oktober
Der Krieg mit Israel im Jahr 2021 markierte einen Wendepunkt in der Strategie des Widerstands der Hamas. Ein wichtiger Hintergrund dieser Entwicklung ist die brutale Niederschlagung und systematische Verstümmelung palästinensischer Demonstranten durch Israel während der Demonstrationen des „Großen Marsches der Rückkehr” in den Jahren 2018 und 2019, der von der Hamas unterstützt worden war.
Sinwar verschärfte seine Rhetorik und befürwortete nun immer wieder eine umfassende militärische Konfrontation mit Israel. Auch die militärischen Übungen der Qassam-Brigaden in jenen Jahren, über die in den Medien der Hamas ausführlich berichtet wurde, stellten militärische Szenarien nach, die dem Angriff vom 7. Oktober ähneln. Damals betrachtete der israelische Geheimdienst die militärischen Übungen der Hamas als Show und sah in Sinwars feuriger Rhetorik vor allem Prahlerei.
Nach 2021 wurde Sinwar zu einem lautstarken Verfechter der Strategie der „Einheit der Felder“. Diese Strategie sollte die palästinensischen Kämpfe an ihren verschiedenen geografischen Standorten miteinander verbinden, vom Westjordanland über den Gazastreifen bis hin zu den Gemeinschaften von Palästinenser:innen mit israelischer Staatsbürgerschaft. Außerdem sollte der Widerstand in Gaza mit der breiteren sogenannten „Achse des Widerstands“ in der Region verbunden werden, vor allem mit der Hisbollah und dem Iran als Unterstützer. Diese Strategie fiel mit Sinwars Bekräftigung des bewaffneten Widerstands als langfristige Ausrichtung der Hamas zusammen.
Der Aufstieg Sinwars zum Chef des Politbüros inmitten des anhaltenden Völkermords in Gaza wurde als Rückverlegung des politischen Schwerpunkts der Hamas nach Gaza und als Bekräftigung ihrer Wurzeln des bewaffneten Widerstands verstanden.
Wie geht es nach Sinwars Tod weiter?
Offen ist, wie sich der Krieg in Gaza nach Sinwars Tod weiter entwickelt. Westliche Beobachter:innen gehen zunächst davon aus, dass sich die Hamas zu allererst sortieren muss. Damit geht auch die Hoffnung pro-israelischer Kräfte einher, die Hamas durch Tötung ihrer wichtigsten Führer entscheidend zu schlagen oder zu zersplittern.
Inzwischen gilt es als wahrscheinlich, dass die Hamas einen Nachfolger wählt, der sich außerhalb von Gaza aufhält. Hier setzt man etwa in den USA und Deutschland Hoffnungen darauf, dass dieser „gemäßigter“ sein könnte: „Sinwar war offenbar stark gegen Kompromisse, so dass sein Tod eine Art von Einigung wahrscheinlicher macht. Gleichzeitig bedeutet das Fehlen eines einzigen glaubwürdigen Hamas-Führers, dass es schwierig sein wird, einige Teile der Organisation zu einem Waffenstillstand zu bewegen“, fasst Jon B. Alterman vom Mittlerer-Osten-Programm des US-Thinktanks „Center for Strategic and International Studies” die Situation gegenüber ABC News zusammen.
Die Hamas gibt sich dagegen weiterhin kämpferisch. Der Tod Sinwars werde „Stärke, Standhaftigkeit und Entschlossenheit“ der eigenen Kämpfer nur erhöhen.