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Innere Zeitenwende: So macht Deutschland sich an der Heimatfront kriegstüchtig

Massenüberwachung, Einschränkung unserer Freiheit, mehr Kompetenzen für Polizei und Geheimdienste – ist das der Preis für die innere Sicherheit? Das wollen uns zumindest deutsche Politiker:innen weismachen. Warum ihre Maßnahmen uns nicht schützen werden und welches Ziel sie wirklich verfolgen. – Ein Kommentar von Herbert Scholle.

Bei einem Stadtfest im nordrhein-westfälischen Solingen tötete ein Attentäter Ende August drei Menschen und verletzte vier weitere schwer. Später bekannte sich die Terrororganisation „Islamischer Staat“ zum Anschlag. Dieses Attentat nahmen Politiker:innen von fast allen Parlamentsparteien zum Anlass, um die deutsche Innenpolitik gehörig aufzumischen.

Bereits kurz nach dem Vorfall tönte es lautstark aus allen Ecken: Man müsse Abschiebungen erleichtern, die Aufnahme von Geflüchteten stoppen, die Überwachung ausbauen und so weiter und so fort. Doch inzwischen ist eindeutig, dass es sich dabei nicht nur um leere Polemik handelte, um bei den Wähler:innen zu punkten, sondern um die Absicht, den massiven Ausbau des inneren Sicherheitsapparats zu beschleunigen.

Klares Feindbild

Besonders deutlich wurde dies, als zwei hochrangige Grünenpolitiker:innen – die Erste parlamentarische Geschäftsführerin Irene Mihalic und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Konstantin von Notz – ein Positionspapier veröffentlichten, das die Grünen später in großen Teilen als Maßnahmenpaket übernahmen. Nicht nur stellten die darin vorgesehenen Maßnahmen einen weiteren großen Schritt in der rasanten Rechtsentwicklung der Partei dar. Das Paket brachte auch erstmals den Begriff der „Zeitenwende” mit deutscher Innenpolitik in Verbindung.

Die Forderungen sind weitreichend: Ein Sondervermögen für die Innere Sicherheit, neue Befugnisse sowie die Aufhebung von Kommunikationsschranken für Polizei und Nachrichtendienste, die Verschärfung der Waffengesetze, etc. Doch nicht nur das Ausmaß der Forderungen war erschreckend. Auch fällt auf, dass man ihrer Umsetzung nicht davor zurückschreckt, das Feindbild der bösen Ausländer:innen nicht nur zu nutzen, sondern aktiv zu schüren.

Nicht nur die Grünen, sondern fast alle bürgerlichen politischen und medialen Akteure nutzen dabei Solingen und ähnliche Vorfälle, um gezielt ein dauerhaftes Klima der Angst vor islamistischem Terror zu schaffen. Die Bedrohung durch Faschist:innen kehrt man hingegen lieber unter den Teppich, denn sonst könnte man ja auf die zahlreichen Verstrickungen von Staat und faschistischen Kräften aufmerksam machen.

Privatsphäre war gestern

Die nun von der Ampelfraktion eingebrachten Gesetzesentwürfe setzen einen klaren Fokus: Die Bundesregierung möchte den Überwachungsapparat massiv ausbauen. Neben zahlreichen Verschärfungen für Asylsuchende soll es der Polizei laut dem Entwurf „zur Verbesserung der Terrorismusbekämpfung“ bald möglich sein, mit Hilfe von Biometrie das Internet nach Personen zu durchsuchen.

Dabei soll es ihr erlaubt sein, nicht nur nach Tatverdächtigen, sondern auch nach Zeugen und vermissten Personen zu suchen. Auch soll es ihr zukünftig erlaubt werden, künstliche Intelligenz (KI) zu Ermittlungszwecken einzusetzen, beispielsweise um ihre Datenbestände zu analysieren.

Es wird den Sicherheitsbehörden also zukünftig erlaubt sein, weitere massive Eingriffe in unsere Privatsphäre zu tätigen. Die Hemmschwellen und Begrenzungen für solche Unternehmungen sind dabei fast zu vernachlässigen: Für den Einsatz von KI ist beispielsweise nicht einmal Terrorverdacht nötig, es müssen lediglich Straftaten „erheblicher Bedeutung“ oder Straftaten „gegen Leib, Leben oder Freiheit einer Person“ vorliegen. Diese schwammigen Richtlinien laden die Polizei förmlich dazu ein,  die KI zu nutzen, wann immer es ihnen passt und dabei eben jegliche Privatsphäre außer Kraft zu setzen.

Noch darüber hinaus sollen auch Ermittlungsbehörden weitere Kompetenzen erhalten: Der Entwurf des neuen BKA-Gesetzes sieht unter anderem vor, dass es ihnen erlaubt wird, heimlich in Wohnungen einzubrechen, IT-Geräte zu hacken und Trojaner zu installieren, um „potentielle Tatmittel unbrauchbar [zu] machen“.

Alles nur ein großes Sicherheitstheater

Dabei gilt es die Effektivität der Maßnahmen anzuzweifeln. Denn, selbst wenn man die Prämisse in Kauf nähme, dass wir für unsere Sicherheit Teile unserer Freiheit aufgeben müssten, stellt sich doch die Frage, wie diese Maßnahmen uns schützen sollen. Die Antwort: Gar nicht! Die Gesetzesverschärfungen tragen kaum bis gar nicht dazu bei, uns zu schützen oder Attentate wie das in Solingen zu verhindern.

Um das zu belegen, reicht es, einige der Maßnahmen einmal genauer zu betrachten: Befasst man sich beispielsweise mit dem Ausbau der Überwachung, stellt man schnell fest, dass Massenüberwachung nur sehr selten dazu beiträgt, Anschläge zu verhindern. Ganz im Gegenteil: Häufig sind die Attentäter den Behörden schon vorher bekannt! Die Attentate in Kopenhagen in 2015, der Anschlag in Nizza 2016, der Angriff auf einen Berliner Weihnachtsmarkt im gleichen Jahr – Bei all diesen Vorfällen wusste die Polizei schon im Vorfeld von den Tätern und der Gefahr, die sie ausstrahlten – und taten nichts.

Auch die große Debatte um eine Verschärfung des Waffengesetzes ist nichts weiter als eine Farce. Als würden Täter:innen plötzlich vor Gewalttaten zurückschrecken, nur weil die Länge der erlaubten Messerklinge verringert wird oder es gelegentlich Kontrollen gäbe.

Wieso liegt also ein so großer Fokus der „Zeitenwende im Innern“ darauf, den islamischen Fundamentalismus zu bekämpfen, während die deutschen Faschist:innen im Bundestag ein- und ausgehen? Weshalb wird über eine Verschärfung des Waffenrechts diskutiert, wenn der Attentäter von Solingen doch ein Messer für seinen Angriff nutzte, das ohnehin schon einem Mitführverbot unterlag? Warum soll die Überwachung ausgebaut werden, wenn sie kaum bis gar nicht in der Lage ist, Gewalttaten und Anschläge zu verhindern?

Die Antwort auf all diese Fragen ist einfach: Dem Staat geht es nicht darum, seine Bürger:innen zu schützen. Vielmehr erschafft er mit solchen Maßnahmen eine Illusion, die ihnen Sicherheit suggerieren soll, um unter eben diesem Deckmantel von Sicherheit Maßnahmen und Gesetze zu verabschieden, die zu der Inneren Aufrüstung beitragen.

Aufrüstung im Innern

Um es kurz zu fassen: Wir sollen große Teile unserer Freiheit aufgeben, uns ständiger massiver Überwachung unterziehen und den Sicherheitsbehörden einen Blanko-Scheck unterschreiben, sodass sie im Namen der inneren Sicherheit tun und lassen können, was immer sie wollen. Noch dazu werden die Maßnahmen nicht dafür sorgen, dass es weniger Gewalttaten gibt. Wozu dienen sie also wirklich?

Betrachtet man den Begriff „Zeitenwende im Innern“ etwas genauer, wird schnell klar, worum es wirklich geht: Als Olaf Scholz den Begriff der „ Zeitenwende“ im Jahr 2022 im Kontext des Ukraine-Kriegs ins Rampenlicht rückte, war die Botschaft deutlich: Deutschland muss wieder kriegstüchtig werden, um sich auf kommende militärische Konflikte mit anderen Großmächten wie Russland messen zu können.

Und ganz genau darum geht es auch jetzt bei der „Zeitenwende im Innern“, nur ist der Feind, auf den man sich hier vorbereitet, eben nicht ein anderer Staat, sondern die Widerstandsbewegung im eigenen Land. Die Regierung bereitet sich also systematisch darauf vor, gegen Widerständige vorzugehen, die der Umsetzung der eigenen außen- und innenpolitischen Interessen im Weg stehen.

Immer mehr Menschen in diesem Land erkennen, dass es nicht in unserem Interesse ist, gegen Russland oder sonst wen in den Krieg zu ziehen. Wir wollen es uns nicht mehr gefallen lassen, dass Milliarden für Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen ausgegeben werden, während man das Sozialsystem kaputt spart. Wir wollen es nicht mehr hinnehmen, dass wir schon bald mal wieder zum Kanonenfutter der BRD werden sollen, um die Interessen der Reichen und Mächtigen zu vertreten.

Und immer mehr Menschen sind bereit, auf die Straße zu gehen und sich zu wehren. Genau das ist dem deutschen Staat aber ein gehöriger Dorn im Auge, denn für eine erfolgreiche Kriegsvorbereitung und -führung muss er darauf setzen, dass es an der Heimatfront still bleibt.

Keine plötzliche Erfindung

Dabei darf man all die Forderungen und Maßnahmen der verschiedenen Parteien nicht etwa erst als „Reaktion auf Solingen“ missverstehen. Ganz im Gegenteil – die Aufrüstung im Innern ist ein Prozess, der nicht erst gestern begann und ist vor allem auch keine spontane Entwicklung. Vielmehr läuft er – genau wie die äußere Aufrüstung – schon seit Jahren.

Seien es die immer weiter vorangehende Ausweitung der Befugnisse für Polizei und Geheimdienste, die immer restriktiveren Versammlungsgesetze der Bundesländer oder die immer schärferen Repressionen gegen Demonstrant:innen: All das sind Beispiele für Wege und Mittel, die der Staat seit langem nutzt, um die Widerstandsbewegungen einzuschüchtern und klein zu halten. All das sind Beispiele für die innere Aufrüstung, die nicht erst gestern begann.

Doch wie sollen wir darauf reagieren? Einfach den Kopf in den Sand stecken und klein beigeben? Nein! Die Geschichte zeigt uns, dass Widerstand nicht zwecklos ist, auch und gerade dann, wenn die Repressionen des Staates zunehmen. Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir kämpfen weiter!

Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 91 vom Oktober 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.

Herbert Scholle
Herbert Scholle
Perspektive-Autor seit 2023 und -Redakteur seit 2024. Der Berliner Student schreibt besonders gern über Arbeitskämpfe und die Tricks der kapitalistischen Propaganda. Er interessiert sich außerdem für Technologie und Fußball sowie deren gesellschaftliche Auswirkungen.

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