Zeitung für Solidarität und Widerstand

Neue Schritte in der Einschränkung digitaler Rechte

Das anlasslose Speichern von Daten auf Vorrat wurde 2022 vom Europäischen Gerichtshof als nicht rechtens erklärt. Seither versuchen Polizei und Bundeskriminalamt, es in Deutschland in anderer Form einzuführen. Jetzt hat der Bundesrat einen neuen repressiven Gesetzesentwurf gebilligt.

Die sogenannte „Vorratsdatenspeicherung” bezeichnet die Praxis, Kommunikationsdaten wie IP-Adressen, Standorte und Anruflisten anlasslos für eine bestimmte Zeit aus Strafverfolgungsgründen zu speichern. Dabei handelt es sich um eine weitreichende Speicherung von Daten aller Nutzer:innen, unabhängig davon, ob sie unter Verdacht stehen oder nicht – dafür müssen sogar verschlüsselte Daten von den Anbietern entschlüsselt werden.

Vorratsdatenspeicherung bislang nicht rechtens

Als der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2022 die Vorratsdatenspeicherung als illegal erklärte, tat er dies unter dem Einwand, dass lediglich die Speicherung unter den bestehenden Kriterien nicht erlaubt sei – und legte damit schon den Grundstein für eine mögliche Neuregelung. Es wäre ein klar eingegrenzter Zeitraum der Datenspeicherung, der nur während einer „real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit“ nötig gewesen. Doch schon vorher gab es gerichtliche Auseinandersetzungen zu derartigen Methoden.

Europäischer Gerichtshof: Vorratsdatenspeicherung illegal

Ursprünglich 2006 als EU-Richtlinie eingeführt, wurde das Gesetz zur anlasslosen Speicherung umfangreicher Daten sämtlicher Nutzer schon 2010 vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als verfassungswidrig erklärt, 2014 folgte der Europäische Gerichtshof (EuGH). Daraufhin gab es 2015 einen neuen Entwurf. Nach dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts (OVG) des Landes Nordrhein-Westfalen, dass auch dieses Gesetz gegen EU-Recht verstoße, wurde dieses ausgesetzt, bis es 2022 in spezifisch deutscher Fassung auch vom EuGH als rechtswidrig eingestuft wurde.

EU schmiedet Pläne hinter verschlossener Tür

Mit jedem erkämpften Verbot des Gesetzes versuchen die Behörden weiterhin beharrlich, an dem Verbot vorbeizukommen und das Gesetz in veränderter Form zu etablieren. Eine Spezial-Gruppe dafür wirkt nun seit Juni 2023 als „High-Level Group (HLG) on access to data for effective law enforcement“. Es handelt sich dabei um eine intransparente Gruppe, die durch die EU-Kommission ins Leben gerufen wurde. Sie hat das Ziel, die Vorratsdatenspeicherung EU-weit mit möglichst scharfen Regelungen einheitlich doch wieder einzuführen.

Die Gruppe ist in dem Sinne „intransparent”, als sie in ihrer Form die Treffen der Vertreter:innen geheim abhalten können und diese auch größtenteils nur mit Wissen der EU-Kommission, EU-Rat und Strafverfolgungsbehörden wie beispielsweise der Polizei, dem Bundeskriminalamt und der Europol durchführen. Datenschutzexpert:innen, Nichtregierungsorganisationen und Forscher:innen werden bei diesen Treffen meist vollständig ausgeschlossen und könnten nur „eingeladen“ werden, was selten der Fall zu sein scheint. Zuvor nannte sich die Gruppe noch eine „Expert Group“, wäre dadurch aber an mehr Transparenz gebunden, weshalb das „Expert“ schließlich gestrichen worden ist.

Hinter verschlossenen Türen wird also erneut in den nicht gewählten Organen der EU über die Wiedereinführung der Vorratsspeicherung gesprochen. Noch einen Schritt weiter gehen wollte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson: In enger Absprache mit Lobbyorganisationen war es ihr Ziel, EU-weite Chatkontrollen einzuführen, was ihr bis zuletzt aber nicht gelang.

Neuanlauf der Vorratsdatenspeicherung im Bundesrat

In den vergangenen Monaten wurden Chatkontrollen auf EU-Ebene nichtsdestotrotz mehrmals auf die Tagesordnung gesetzt, dann aber aufgrund von Uneinigkeiten mit Blick auf die Sperrminorität wieder verworfen – so zuletzt am 10. Oktober. Besonders der ungarische Staat drängt auf eine Einigung in Richtung flächendeckende Massenüberwachung und EU-weiter Chatkontrollen.

Diese Diskussion hält Deutschland aber nicht davon ab, selbst über die eigene „Vorratsdatenspeicherung“ zu diskutieren. So hat der Bundesrat jetzt einen Gesetzesentwurf gebilligt, der „zumindest“ die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen erlauben will. Die Begründung dafür ist ähnlich wie beim EU-Parlament: Massenüberwachungen sollen wegen des Kampfs gegen sexualisierte Gewalt gegenüber Minderjährigen – und laut eigenen Aussagen auch besonders gegen Terrorismus – eingeführt werden.

Nach Anschlag von Solingen – Politik und Staat bereit für den Ausbau der Repression

Kommende Woche soll auch das repressive „Sicherheitspaket“ der Ampelregierung fertiggestellt sein, damit dieses schon am 18. Oktober in den Bundesrat kommen könnte. Ob der erneute Druck für die Vorratsdatenspeicherung schnell genug und erfolgreich durch den Bundestag kommen kann und so in das Sicherheitspaket eingebunden werden könnte, ist aber unwahrscheinlich.

Ausweitung von staatlicher Überwachung zu beobachten

Die Pläne der High Level Group zeigen, dass die Urteile des EuGH und die vorläufig erfolglose Einführung von Chatkontrollen keine Absicherung sind. Denn auch ohne diese Gesetze sammeln Polizei und Geheimdienste unabhängig Daten. Ein Fall im Mai 2024, in dem ein mutmaßliches Mitglied der katalanischen Unabhängigkeitsorganisation Democratic Tsunami verhaftet wurde, zeigt, dass selbst vermeintlich „sichere“ Anbieter wie „Protonmail” Daten an Behörden weiterleiten.

Schon während der Europameisterschaft 2024 in Deutschland war zu beobachten, dass der Staat bereit ist, zahlreiche Grundrechte unter dem Vorwand der „Wahrung unserer Sicherheit“ auszusetzen. Die aktuellen Diskussionen um die Verwendung von Methoden wie der Vorratsdatenspeicherung oder Chatkontrollen reihen sich in diese Tendenz ein.

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