Die Zahl der Krankheitstage ist 2024 auf einem Höchstwert. Grund dafür sind neben hohen Infektionszahlen auch steigende psychische Erkrankungen. Kein Grund seien dagegen die „gefühlten Wahrheiten“ Lindners, der Arbeiter:innen das Ausnutzen der telefonischen Krankschreibung unterstellte. – Ein Kommentar von Nick Svinets.
Im Jahr 2024 sind die krankheitsbedingten Fehlzeiten in Deutschland stark angestiegen, wie der neueste Fehlzeitenreport des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt. Bereits bis August erreichten die gemeldeten Ausfälle das Niveau des gesamten Vorjahres. Besonders stark betroffen sind psychische Erkrankungen und Atemwegserkrankungen wie Grippe und Corona.
Psychische Erkrankungen nehmen zu
Die AOK-Statistik verdeutlicht, dass der Trend der steigenden psychischen Belastungen anhält. Arbeitsdruck und Stress, aber auch soziale und familiäre Herausforderungen tragen verstärkt zu Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Burnout bei. „Als Ursache vermuten wir ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren – von der Zunahme psychischer Belastungen durch globale Krisen bis zu Veränderungen in der Arbeitswelt wie Verdichtung und Entgrenzung der Arbeit durch ständige Erreichbarkeit“, erklärt Johanna Baumgardt, Forschungsbereichsleiterin für Betriebliche Gesundheitsförderung im WIdO und Mitherausgeberin des Fehlzeiten-Reports.
Diese Krankheiten sind häufig langfristig und sorgen für längere Fehlzeiten, was die Gesamtzahlen in die Höhe treibt. Seit 2014 sind die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen um knapp 47 Prozent gestiegen. Die Zahl der Krankschreibungen aufgrund von Burnout bei AOK-Mitgliedern stieg von 100 AU-Tagen pro 100 Erwerbstätige im Jahr 2014 auf fast 184 Tage im Jahr 2024.
Dabei zeigt sich, dass psychische Erkrankungen über alle Berufsgruppen hinweg zunehmen, auch in Branchen, die traditionell weniger von hohen Fehlzeiten betroffen waren. Besonders anfällig für psychische Erkrankungen waren Tätigkeiten in den Bereichen Erziehung und Bildung, im Gesundheits- und Sozialwesen sowie in Berufen mit intensiven sozialen Kontakten, wie etwa in der öffentlichen Verwaltung.
Klareres Bild durch telefonische Krankschreibung
Parallel dazu haben Atemwegserkrankungen, insbesondere Grippe und Corona, weiterhin erhebliche Auswirkungen auf die Fehlzeitenstatistik. Die kalte Jahreszeit und die damit verbundenen Erkältungswellen sind eine zusätzliche Belastung für das Gesundheitssystem und die Arbeiter:innenschaft in vielen Unternehmen. Besonders in stark besetzten Arbeitsumgebungen führen Ansteckungen zu raschen Ausfällen ganzer Teams, was den Arbeitsablauf zusätzlich erschwert.
Ein wichtiges Instrument, um das Gesundheitssystem zu entlasten, ist die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung. Ursprünglich als Maßnahme zur Eindämmung der Corona-Pandemie eingeführt, wurde diese Regelung mehrfach verlängert und bleibt auch 2024 eine Option für Arbeiter:innen, die sich krankschreiben lassen müssen. Sie ermöglicht es ihnen, sich ohne den Besuch einer Arztpraxis bei leichteren Erkrankungen krank zu melden und so unnötige Ansteckungen in überfüllten Wartezimmern zu vermeiden.
„Der Krankenstand liegt höchstwahrscheinlich aufgrund einer erhöhten Empfänglichkeit für Infektionen und aufgrund der neuen, zusätzlichen viralen Erkrankungen der letzten Jahre insgesamt höher“, so die AOK. Baumgardt vermutet zudem, „dass vor der Einführung der eAU nicht alle Versicherten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei der Kasse eingereicht haben, sodass wir nun ein vollständigeres Bild haben“.
AOK widerspricht Lindner
Trotz politischer und gesellschaftlicher Debatten über einen möglichen Missbrauch der telefonischen Krankschreibung gebe es laut AOK keine Hinweise darauf, dass diese Option häufiger zu unberechtigten Krankmeldungen führt. Arbeitgeberverbände und politische Vertreter:innen äußerten wiederholt Bedenken, dass Arbeiter:innen durch die vereinfachte Krankschreibung möglicherweise schneller und leichter zum Telefonhörer greifen, um sich eine Auszeit zu nehmen. Zuletzt forderte Christian Lindner (FDP) daher deren Abschaffung.
Lindner will telefonische Krankschreibung abschaffen – Ärzt:innen warnen
Die AOK betont jedoch, dass Missbrauchsfälle laut ihrer Daten nicht gehäuft auftreten. „Diese gefühlte Wahrheit können wir nicht bestätigten“, betonte Reimann. „Verschiedene Auswertungen des WIdO zu den Fehlzeiten in der Pandemie lassen den Schluss zu, dass mit der damals neu eingeführten Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung sehr verantwortungsvoll umgegangen worden ist.“
Zudem sei die telefonische Krankschreibung ein nützliches Mittel, um den Gesundheitsschutz in Zeiten von Grippewellen und pandemischen Erkrankungen zu stärken. Besonders in den Wintermonaten wird die telefonische Krankschreibung weiterhin stark in Anspruch genommen, da gerade Atemwegserkrankungen wie Corona und Grippe dazu führen, dass Patient:innen die Möglichkeit schätzen, ihre Krankheit zu Hause auszukurieren, ohne lange Wartezeiten in Arztpraxen auf sich nehmen zu müssen. Auch die Entlastung des medizinischen Personals in Arztpraxen durch die Reduzierung des Andrangs ist ein weiterer positiver Effekt dieser Maßnahme.
Die Diskussion über die Fortführung dieser Regelung bleibt jedoch offen. Einige politische Akteur:innen fordern ein strengeres Vorgehen und eine Rückkehr zu den ursprünglichen, persönlichen Arztbesuchen. Andere, darunter viele Gesundheitsexpert:innen, sprechen sich für eine dauerhafte Beibehaltung der telefonischen Krankschreibung aus, um weiterhin eine unkomplizierte Gesundheitsversorgung sicherzustellen.
Lohnarbeit im kapitalistischen System
Insgesamt zeigt der AOK-Fehlzeitenreport eine klare Tendenz, die sich in den vergangenen Jahren bereits abzeichnete: Die steigende Arbeitsbelastung und der zunehmende Stress wirken sich negativ auf die Gesundheit vieler Arbeiter:innen aus. Vor allem die Zunahme psychischer Erkrankungen zeigt, dass die Anforderungen im Arbeitsalltag für viele Menschen immer schwerer zu bewältigen sind.
Die AOK spricht von einem „psychosozialen Sicherheitsklima“, dass in vielen Fällen negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeiter:innen hat. Eine Umfrage unter Pfleger:innen zeigte, dass mehr als die Hälfte bereits über einen Arbeitsplatzwechsel nachgedacht hat, etwa ein Drittel darüber, ganz aus der Pflege auszusteigen. Laut der Studie ist die Wechsel- und Ausstiegsbereitschaft in Pflegeeinrichtungen mit hoher Priorität auf mentaler Gesundheit und gutem Arbeitsklima nur halb so hoch wie in solchen mit schlechtem psychosozialen Sicherheitsklima.
Zusätzlich bleibt abzuwarten, wie sich die Grippe- und Corona-Fallzahlen in den kommenden Monaten entwickeln und welche Auswirkungen diese auf die Fehlzeitenstatistiken haben werden. Die Wintermonate gelten traditionell als Hochphase für Atemwegserkrankungen, was zu einer weiteren Belastung des Gesundheitssystems führen könnte.
Der AOK-Fehlzeitenreport 2024 unterstreicht, dass die Gesundheit der Arbeitenden im kapitalistischen System zunehmend unter Druck gerät. Die telefonische Krankschreibung bleibt dabei ein wichtiger Baustein, der das Gesundheitssystem und besonders die Arbeiter:innen entlastet.