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Was geschah am 7. Oktober 2023? – Mythen und Fakten

Die Militäroffensive unter Führung der Hamas hat die israelische Besatzungsmacht am 7. Oktober 2023 zur eskalativen Reaktion bewegt. Um diesen Tag ranken sich bis heute unzählige Vorwürfe – teils wahr, teils frei erfunden. Über patriarchale Gewalt, geköpfte Babys und die Hannibal-Direktive. – Ein Kommentar von Nick Svinets.

Der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin sagte einst: „Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert, und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte passieren.“ Für die Palästinenser:innen ist die koloniale Unterdrückung in den letzten Jahrzehnten sicherlich brutaler Alltag gewesen. Doch der 7. Oktober und die darauffolgende Zeit stellten trotzdem neue Dimensionen im palästinensischen Befreiungskampf ebenso wie in der israelischen Reaktion dar.

Die derzeitige Eskalation

Aktuell halten die militärische Eskalation seitens Israel – die Bombardierung des Jemen, Syriens und des Libanons – die Region in Atem. Die terroristischen Angriffe des israelischen Geheimdienstes Mossad gegen die Hisbollah und libanesische Zivilist:innen, die international als „Pager-Attacken“ mit 37 Toten und 3000 Verletzten bekannt sind, haben das eskalative Vorgehen Israels weiter intensiviert.

Die Ermordung des Hisbollah-Chefs Hasan Nasrallah und die am 1. Oktober gestartete Bodenoffensive der IDF in den Südlibanon, überschritten zudem viele international gesetzte Grenzen. Das bewegte wiederum den Iran dazu, militärisch gegen Israel vorzugehen und ca. 200 Raketen auf Tel Aviv abzufeuern. Ziele waren unter anderem das Mossad-Hauptquartier, das inmitten eines dicht besiedelten Gebiets in der Stadt liegt.

Iran vs. Israel: Keine gerechte Seite

Der Grund für dieses Vorgehen ist laut israelischen Offiziellen und Zionist:innen weiterhin der Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023, der von der Hamas angeführt wurde. Doch was geschah eigentlich genau an dem Tag, der bis heute als Legitimierung für unzählige Kriegsverbrechen genutzt wird?

Der 7. Oktober

Am 7. Oktober 2023 unternahm die Hamas mit anderen bewaffneten Widerstandsorganisationen eine großangelegte Offensive auf Israel, die nicht nur eine neue Eskalationsstufe im sogenannten „Nahostkonflikt“ markierte, sondern auch die politische Lage der gesamten Region nachhaltig veränderte. Der Angriff lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf die Palästinenser:innen und deren Anliegen, die viele weltweite Akteure ignoriert und vergessen hatten.

Die israelische Armee und Regierung zeigte sich überrascht von dem Angriff. Unter anderem der ägyptische Geheimdienst erklärte jedoch, dass er Israel zuvor gewarnt hätte. Dazu kamen unregelmäßige Aktivitäten an der Grenze des Gaza-Streifens in den Tagen zuvor, die die israelische Armee scheinbar willentlich ignorierte. Die BBC fand heraus, dass von vielen Soldat:innen auf dem Nahal-Oz Stützpunkt verdächtige Aktivitäten bemerkt wurden. Einige Überwachungsgeräte waren zudem entweder außer Betrieb oder konnten von der Hamas mit Leichtigkeit zerstört werden. Außerdem waren viele israelische Soldaten dort unbewaffnet und die offiziellen Protokolle sahen vor, dass sich die Soldaten bei einem Angriff zurückziehen sollten, anstatt vorzurücken.

Die unmittelbaren Auswirkungen des Angriffs waren erschütternd: In Israel wurden etwa 1.150 Menschen getötet, darunter einige hundert Soldat:innen, aber auch viele Zivilist:innen und ausländische Staatsangehörige. Zudem entführte die Hamas etwa 250 Geiseln, um diese als Druckmittel gegen Israel sowie zur Befreiung eines Teils der tausenden palästinensischen Geiseln in israelischen Gefängnissen zu nutzen.

Israel reagierte mit massiven militärischen Vergeltungsangriffen auf den Gazastreifen, die bis heute andauern. Die Zahl der palästinensischen Opfer ist dramatisch gestiegen – mindestens 41.000 Menschen sind bis heute ermordet worden, 44 Prozent von ihnen Kinder. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer dürfte jedoch weitaus höher sein, da tausende Menschen unter Trümmern liegen oder für medizinische Teams unzugänglich sind.

Ein Jahr Genozid in Palästina

Al Jazeeras Untersuchung

Das Investigative Team von Al Jazeera (I-Unit) hat eine forensische Analyse durchgeführt, um die Ereignisse der Angriffe zu rekonstruieren. Dabei wurden sieben Stunden Videomaterial von verschiedenen Quellen wie Überwachungskameras, Dashcams, Handys und Helmkameras von getöteten Hamas-Kämpfern ausgewertet. Außerdem sammelte das Team Aussagen von Hunderten Überlebenden, Militärangehörigen und Ersthelfern.

Die Untersuchung kam zu dem Schluss, dass während des Angriffs schwere Menschenrechtsverletzungen durch Hamas-Kämpfer und andere Beteiligte begangen wurden. Dabei wurden insgesamt 782 israelische Zivilist:innen und Ausländer:innen durch gezielte Angriffe getötet. Während diese Gräueltaten unbestritten sind, ergab die Untersuchung auch, dass viele der schlimmsten Geschichten, die direkt nach dem Angriff verbreitet wurden, falsch waren.

Ein besonders erschütterndes Gerücht, das weltweit verbreitet wurde, war die Behauptung, dass 40 Babys von Hamas-Kämpfern getötet und viele von ihnen enthauptet worden seien. Doch die I-Unit konnte dieses Gerücht eindeutig widerlegen. Die Analyse der Liste der Toten zeigt, dass lediglich zwei Babys an diesem Tag ums Leben kamen. Eines wurde von einer Kugel getroffen, die durch eine Tür gefeuert wurde, das andere starb nach einem Not-Kaiserschnitt, nachdem die Mutter angeschossen worden war. Weder das eine noch das andere Baby wurde verbrannt oder verstümmelt.

Auch ranghohe Politiker:innen wie US-Präsident Biden und Außenministerin Baerbock verbreiteten nach dem 7. Oktober Falschinformationen. Biden behauptete, Bilder von enthaupteten Kindern gesehen zu haben, musste dies aber später korrigieren. Baerbock gab an, ein Video einer Vergewaltigung durch Hamas-Kämpfer gesehen zu haben, ohne eine Quelle nennen zu können.

Die Lügen vom 7. Oktober

Hannibal-Direktive: Israel tötete israelische Zivilist:innen

Auch im Fall des Kibbutz Be’eri, von dem die IDF behaupteten, dass acht Babys getötet worden seien, stellte sich heraus, dass keine Babys zu den Opfern zählten. Tatsächlich wurden 12 Israelis in diesem Kibbutz getötet – sehr wahrscheinlich durch das Feuer israelischer Bodentruppen, die offenbar der sogenannten Hannibal-Doktrin zum Opfer fielen. Diese Direktive der israelischen Armee besagt, dass es besser sei, Geiseln zu töten, als sie in die Hände des Feindes fallen zu lassen.

Untersuchungen der UN deuten ebenfalls darauf hin, dass nicht alle Todesopfer auf Hamas-Kämpfer zurückzuführen sind. Mindestens 18 Israelis wurden durch das israelische Militär getötet, weitere 27 Geiseln starben unter unklaren Umständen zwischen ihren Häusern und der Grenze zu Gaza. Videomaterial von Hubschraubern zeigt, wie Personen und Fahrzeuge beschossen werden, wobei Expert:innen bezweifeln, dass eine klare Unterscheidung zwischen Hamas-Kämpfern und Geiseln möglich war.

Patriarchale Gewalt auf beiden Seiten

Israel rechtfertigt seine Offensive mit Verweis auf den Angriff vom 7. Oktober und seinem angeblichen Kampf zwischen „Zivilisation und Barberei“ – wie Netanjahu erst kürzlich wieder in einer Rede gegen die Einstellung der französischen Waffenlieferungen betonte. Insbesondere der angebliche „Massenmord an Babys“ sowie der Einsatz systematischer sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe durch die Hamas wird aufgeführt, um die Palästinenser:innen als unzivilisiert darzustellen.

Auch wenn konkrete Belege an den meisten Stellen fehlen, deutet vieles darauf hin, dass es am 7. Oktober sexualisierte Gewalt durch palästinensische Kämpfer gab. Die Identifizierung der Opfer sei laut der israelischen Organisation Association of Rape Crisis Centers schwierig gewesen, da viele von ihnen im Zuge des Angriffs getötet wurden. Außerdem seien die Ersthelfer von dem Ausmaß des Todes und der Zerstörung so überwältigt gewesen, dass sie keine Anzeichen für sexuellen Missbrauch dokumentierten.

Immer wieder kam es jedoch auch zu falschen Meldungen. Die amerikanische Zeitung The Intercept wies Berichte der New York Times zurück, die zwei Teenager-Mädchen im Kibbutz Be’eri als Opfer sexueller Gewalt nannten. Interviews mit Familienmitgliedern widersprachen einem Sanitäter der israelischen Streitkräfte. Auch ein UN-Team konnte die Vorwürfe nicht bestätigen.

Neben sexualisierte Gewalt durch palästinensische Kämpfer kam es jedoch auch zu Vergewaltigungen durch israelische Soldat:innen. Am 29. Juli wurden neun israelische Soldaten verhaftet, weil sie palästinensische Männer körperlich und sexuell gefoltert haben sollen. Vier der Soldaten wurden kurz darauf wieder freigelassen. Sogar das US-Außenministerium bezeichnete ein öffentliches Video der Vergewaltigung als „entsetzlich“ und forderte eine umfassende Untersuchung durch die israelische Regierung und die IDF sowie die Bestrafung der Verantwortlichen.

Patriarchale Gewalt in Israel und Palästina: nicht verharmlosen, nicht instrumentalisieren

Westliche Medien rund um den 7. Oktober

Im Nachhinein zeigt sich die dringende Notwendigkeit, in einem Konflikt, der stark von zionistischer Propaganda geprägt ist, Mythen von Fakten zu trennen. Besonders in den letzten Monaten des Jahres 2023 zeigte sich, dass westliche Medien einen unkritischen Umgang mit Pressemitteilungen der Israelischen Besatzungsarmee und anderer israelischer Institutionen pflegten. Diese einseitige Berichterstattung führte dazu, dass Mythen oft als Beweise dargestellt wurden und die Berichte der IDF nahezu unwiderlegbare Wahrheiten annahmen.

Im Gegensatz dazu fanden Aussagen palästinensischer Quellen – selbst jene von den Vereinten Nationen – in den deutschen und anderen westlichen Medien nur wenig oder gar keine Beachtung. Diese selektive Berichterstattung trug maßgeblich dazu bei, dass internationaler Druck auf Israel als Besatzungsmacht nicht frühzeitig und mit der nötigen Intensität ausgeübt wurde. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den komplexen geostrategischen Interessen im imperialistischen Konkurrenzkampf in Westasien wurde durch diese Medienlandschaft von vornherein weitgehend ausgeschlossen.

Der Krieg in Gaza und der drohende Niedergang des Journalismus

Nick Svinets
Nick Svinets
Perspektive-Autor seit 2024 und Politikwissenschaftsstudent mit Fokus auf Westasien & Sahelzone, Migration, Antirassismus, Antimilitarismus und internationale Klassenkämpfe.

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