Vor 35 Jahren, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer, und die Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten DDR und BRD wurden geöffnet. Während sich für westdeutsche Kapitalist:innen Träume erfüllten, brachte die Wiedervereinigung für viele Arbeiter:innen vor allem Enttäuschung und neue Probleme. Wie steht es heute um die Einheit? – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.
In der Geschichtsschreibung zum Fall der Berliner Mauer spielt vor allem ein Missverständnis während einer Pressekonferenz am 9. November 1989 eine gewichtige Rolle: Der SED-Mann Günter Schabowski verkündete – einen Tag früher als eigentlich vom SED-Zentralkomitee vorgesehen – im Internationalen Pressezentrum der DDR eine neue Regelung: Für Bürger:innen der DDR würden „sofort, unverzüglich” Überquerungen der Grenze nach Westdeutschland ohne größere Einschränkungen möglich sein.
Weil noch am selben Abend zehntausende DDR-Bürger:innen an die Grenzen strömten und die dort stationierten Grenzsoldat:innen überrumpelten, konnte die SED-Regierung letztlich nicht anders, als die Kontrolle über die Grenze komplett aufzugeben.
Doch in den Wochen und Monaten nach der Öffnung der Grenzen fühlten sich zunehmend auch viele Bürgerrechtler:innen, die in der DDR für Reformen und Verbesserungen wie Reisefreiheit gekämpft hatten, missverstanden. Denn sie hatten ursprünglich keineswegs eine Vereinigung mit dem westdeutschen Nachbarn gefordert, sondern eine Demokratisierung des maroden und repressiven Systems und mehr Einsatz für Frieden in Europa. Gleichzeitig folgten aber immer mehr Protestierende den westdeutschen Forderungen nach der „Deutschen Einheit” und einem Zusammenschluss mit der BRD.
Sechs Wochen nach dem Mauerfall, am 19. Dezember 1989, hielt der westdeutsche Kanzler Helmut Kohl (CDU) in Dresden vor der Frauenkirche schließlich eine Rede, in der er die Einheit des deutschen Volkes pries und schwor: „Von deutschem Boden muss in Zukunft immer Frieden ausgehen – das ist das Ziel unserer Gemeinsamkeit!”. Eine neue Losung machte sich unter den Protestierenden breit: „Einig deutsches Vaterland“.
Gemeinsamkeit und Frieden lassen auf sich warten
Der BRD und vor allem den westdeutschen Kapitalist:innen ging es dabei nicht um die rührselig herbeigeredete Einheit, sondern tatsächlich um eine Annexion Ostdeutschlands. Weder vor noch nach 1990 hatte sich jemals ein kapitalistisches Land eine Volkswirtschaft in vergleichbarer Größenordnung einverleibt. Die Vereinigung mit Ostdeutschland war dabei bereits über Jahrzehnte das erklärte Ziel der BRD gewesen – mit der Stoßrichtung, die Vorherrschaft Deutschlands in Europa nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg wiederherzustellen und dem deutschen Kapital langsam und Schritt für Schritt die verloren gegangen Einflussbereiche zurück zu erobern.
Der „Frieden”, von dem Kohl 1989 redete, war der gleiche „Frieden”, den später das wiedervereinigte Deutschland mit den ersten Bundeswehr-Auslandeinsätzen in Kosovo und Serbien und später zum Beispiel auch in Afghanistan zu bewahren vorgab. Und es ist der gleiche „Frieden”, für den heute die BRD aufrüstet und Panzer in Kriegsgebiete exportiert – ein „Frieden” also, der die Sicherheit des deutschen Kapitals mit Waffengewalt verteidigt.
Und auch die „Gemeinsamkeit” in Westdeutschland und Ostdeutschland, die sich so viele erhofft haben, gibt es heute nicht. Denn noch immer klafft zum Beispiel bei den Löhnen der Arbeiter:innen in West und Ost eine Lücke von durchschnittlich 824 Euro pro Monat. Nebenbei wurden im Zuge der „Einheit” die gewachsenen Wirtschaftsstrukturen der DDR zugunsten der Profite der westdeutschen Kapitalist:innen vollständig zerschlagen.
Die Unzufriedenheit vieler ostdeutscher Menschen stößt im Westen nicht selten auf Unverständnis: Warum geben sie sich denn nicht damit zufrieden, dass es ihnen nun besser geht als zu DDR-Zeiten? Doch genau hierin liegt ein weiteres Missverständnis. Denn die Lehren, die wir heute aus den Ereignissen rund um den Mauerfall und die deutsche Einheit ziehen können, sind vor allem die, dass wir – wenn wir unsere Freiheit erkämpfen wollen – unsere Hoffnung niemals in ein kapitalistisches System legen sollten.
Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 92 vom November 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.