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Friedensangebot gemacht, kurdische Bürgermeister:innen entrechtet – Türkische Politik zwischen Zuckerbrot und Peitsche

Nach knapp vier Jahren gab es Ende Oktober wieder ein vermeintliches Friedensangebot der Türkei an die PKK. Parallel wurden in den vergangenen Wochen kurdische Bürgermeister:innen durch Zwangsverwalter ersetzt und hunderte Menschen unter Terrorvorwürfen festgenommen. Die Politik der Türkei hat sich nicht gewandelt, sie reagiert lediglich auf sich verändernde Bedingungen. – Ein Kommentar von Matthias Goeter.

In den letzten Wochen haben sich die Nachrichtenmeldungen aus der Türkei und Kurdistan beinahe überschlagen: Bahçeli, Führer der faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) gab Abgeordneten der linken DEM (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker) im Parlament die Hand, nachdem es nur zwei Monate zuvor zu körperlichen Angriffen im Parlament kam.

Verknüpft war das mit einem „Angebot“: Der kurdische Revolutionär Abdullah Öcalan solle die Auflösung der PKK erklären, dann könne er freikommen und man könne über Frieden reden.

Es folgte ein Besuch des DEM-Abgeordneten und Neffen Ömer Öcalan bei Abdullah Öcalan im Gefängnis auf der Insel Imrali. Nur einen Tag später griff ein Kommando der PKK-Guerilla HPG (Dt. Volksverteidigungskräfte) ein Rüstungsunternehmen in Ankara an.

Ab Mitte Oktober folgte dann die Absetzung von mittlerweile sieben gewählten Bürgermeister:innen in den im türkischen Staatsgebiet liegenden nordkurdischen Gebieten und des Istanbuler Stadtteils Esenyurt, wo ein Politiker der CHP regierte. In Nordkurdistan folgten Straßenschlachten und Proteste. Jüngst gab es eine weitere Festnahmewelle von mehreren hundert Personen unter vermeintlichen Terrorvorwürfen.

Nordkurdistan: Türkische Zwangsverwaltung statt Demokratie

Die CHP bringt sich dabei vorsichtig als demokratische Alternative zu Erdoğan und seine AKP in Position. Bereits zu den Wahlen sind sie ein taktisches Bündnis mit der DEM eingegangen, um gemeinsame Mehrheiten gegen AKP/MHP-Kandidat:innen zu erlangen und protestieren nun gegen die Zwangsverwaltung.

Doch damit sind sie noch lange keine wirklichen Verbündeten der kurdischen oder sozialistischen Bewegung in der Türkei. Vielmehr stehen sie für den Teil des Staats und der Wirtschaft, der nicht mehr hinter Erdoğan steht, sich selbst aber für eine Machtübernahme in Stellung bringt und dafür auch zu demokratischen Zugeständnissen bereit ist. Am Ende bleibt die CHP aber die Partei des Gründers der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk.

Andauernde Krise in der Türkei

Um diese kurzfristigen Entwicklungen zu bewerten ist ein breiterer Blick notwendig:

Seit Jahren ist die Wirtschaft der Türkei von Krisen geprägt. Die Inflation steigt schon seit langer Zeit immer rasanter und liegt nach unabhängigen Schätzungen noch weit über den offiziellen Zahlen. Für immer breitere Bevölkerungsteile wird das Leben kaum noch bezahlbar. Hinzu kommen eine immer stärkere Prekarisierung in inoffiziellen Beschäftigungsverhältnissen und eine konstant hohe Arbeitslosenquote.

Für Schlagzeilen sorgte etwa die ehemalige Chefin der türkischen Zentralbank, Hafize Gaye Erkan – eigentlich von Erdoğan eingesetzt, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Sie wurde entlassen, nachdem sie sich öffentlich beschwert hatte, in Istanbul keine bezahlbare Wohnung zu finden. Wie es dann wohl der einfachen Bevölkerung ohne Managergehälter gehen muss?

Rund um das verheerende Erdbeben Anfang 2023 wurden auch Stück für Stück die Folgen von Vetternwirtschaft zwischen Politik und dem auf Pump getrimmten und eng mit der regierenden AKP verwobenen Bau-Sektor mit offensichtlichen Konstruktionsmängeln offensichtlich. Dies sorgte für einen Bruch in Teilen der türkischen Gesellschaft. Noch immer ist von dem durch Erdoğan groß angekündigten Wiederaufbau wenig zu sehen.

Schwierige Lage in der Region

Die krisenhafte Lage in der Türkei wird außerdem durch die andauernden Konflikte im Nachbarland Syrien befeuert, bei der es für die Türkei keine „einfache Lösung“ gibt.

Zum einen sind vor dem fortwährenden Bürgerkrieg hunderttausende Syrer:innen in die Türkei geflohen. Dabei handelt es sich zwar um „billige Arbeitskräfte“ für Teile des türkischen Kapitals. Im Zuge der wirtschaftlichen Zuspitzung stellen diese syrischen Geflüchteten, die durch Schwarzarbeit und Konkurrenz in nur noch prekärere Arbeitsverhältnisse gedrängt werden, jedoch auch eine Konkurrenz für die Massenbasis der AKP dar. Das hat wiederholt zu Unzufriedenheit mit der Regierung, wie auch zu enormen Spannungen bis hin zu Pogromen gegen Geflüchtete geführt.

Zum anderen spielt die Türkei ein Doppelspiel in Syrien: So gab es zuletzt wieder Versuche der Türkei, die Beziehungen zu Assad in Syrien neu aufzubauen. Gleichzeitig besteht eine enge Verbindung mit islamisch-fundamentalistischen syrischen Milizen, die unter dem Befehl der Türkei im Jahre 2018 Afrin eroberten. Seit Mitte dieser Woche – kurz nach dem Waffenstillstandsabkommen zwischen der Hisbollah und Israel am Dienstagabend – sind diese in eine Offensive gegen Stellungen Assads getreten. So wird hierüber auch ein Spielraum gesucht, die Besatzung der Selbstverwaltung in Nordostsyrien (Rojava) auszuweiten bzw. eine Stabilisierung vor Ort zu verhindern.

Sich verschiebende Weltlage

Lange Zeit konnte die Türkei ihre strategisch wichtige geopolitische Lage gut nutzen, um sich zwischen den Machtblöcken Russland und der NATO bzw. EU eigene Handlungsräume zu verschaffen. Dies geschah etwa beim Angriff auf Afrin im Jahr 2018 oder dem Angriff auf die Selbstverwaltung in Rojava 2019.

Mit den sich global immer weiter zuspitzenden Widersprüchen – insbesondere im Zuge des Ukraine-Kriegs und der israelischen Angriffe auf Palästina und den Libanon – wird dies für die Türkei jedoch immer schwerer.

Die Wahl Donald Trumps lässt außerdem eine Konfrontation mit dem Iran in Westasien befürchten. Dieser stellt zwar in der Region eine Konkurrenz zur Türkei dar, eine offene Konfrontation oder weitere Eskalation über Stellvertreterkriege würde den Handlungsspielraum der Türkei für eigene Interessen jedoch noch weiter einschränken.

Auch der Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung befindet sich mehr oder weniger in einer Pattsituation: Bereits seit letztem Jahr ist die Guerilla in den kurdischen Bergen in der Lage, türkische Drohnen abzuschießen und konnte damit einen Vorteil der Türkei ein Stück weit ausgleichen. Auch ist die Türkei immer noch nicht in der Lage, dort wirklich militärisch und politisch Fuß zu fassen.

Mit der Selbstverwaltung in Rojava besteht zudem nach wie vor eine konkrete, für die Türkei bedrohliche Alternative, die direkt „vor der Haustür“ greifbar ist. Nachdem ein erneuter Angriff und eine Besatzung wie 2019 aufgrund weltweit zugespitzter Widersprüche nicht möglich sind, führt die Türkei hier einen andauernden Krieg niedriger Intensität durch anhaltende Bombardierungen kritischer Infrastruktur und gezielte Attentate auf wichtige Kader:innen der kurdischen Revolutionär:innen. Nichtsdestotrotz hat die Selbstverwaltung Bestand und kann weiter an ihrem Aufbau arbeiten.

Erdogan gegen Israel? – Wie das Vorgehen des türkischen Staats einzuschätzen ist

Demokratische Proteste und Repression

Erdoğan und sein Bündnis aus AKP und MHP sitzen also längst nicht mehr fest im Sattel. Die anhaltende Wirtschaftskrise, die Folgen des Erdbebens, eine spürbare Perspektivlosigkeit gerade unter jungen Menschen und bemerkbare Unterdrückung sorgen immer wieder für Unmut. Zwar konnte das AKP/MHP-Bündnis bei den letzten Parlamentswahlen noch eine Mehrheit erlangen, und auch Erdoğan wurde als Präsident wiedergewählt. Bei den Kommunalwahlen verloren sie jedoch eine Mehrheit und insbesondere die großen Städte, die wirtschaftlich für die Türkei bestimmend sind.

Damit können Erdoğan und sein Bündnis nicht mehr einfach so weitermachen. Die CHP bringt sich derweil unter neuer Führung des beliebten Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu in Position, in den kommenden Jahren wieder die Herrschaft in der Türkei zu übernehmen. Hierfür ist sie auch bereit, Zugeständnisse an die kurdische Bewegung zu machen, wie sich im taktischen Wahlbündnis bei den Kommunalwahlen oder der vorsichtigen Solidarität und im Protest gegen die Absetzung der Bürgermeister:innen offenbart.

Ebenfalls zeigt sich hier, dass der türkische Staat trotz anhaltender Repression und Gewalt auf der Straße auch militanten Protest nicht komplett verhindern kann: So kam es nach der Absetzung der gewählten Bürgermeister:innen in verschiedenen Städten kurzzeitig zu Straßenkämpfen. Auch die Frauenbewegung in der Türkei schafft es nach wie vor, sich die Straße zu nehmen, wie jüngst am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.

Ein „Friedensangebot“?

Das nun von Bahçeli – offensichtlich in Absprache mit Erdoğan – vorgebrachte „Friedensangebot“ ist dabei kein Abweichen vom radikalen Vorgehen gegen die kurdische Bewegung. Vielmehr wird unter sich verändernden innen- wie außenpolitischen Bedingungen ein Versuch unternommen, eine Möglichkeit unter weiteren auszutesten. Am Ende haben Erdoğan und Bahçeli damit nämlich nichts verloren und können mögliche Optionen für sich ausprobieren.

Dass die für Öcalans Freiheit geforderte Selbstentwaffnung einer Kapitulation und damit dem Ende der kurdischen Freiheitsbewegung gleichkäme, muss klar sein. Gleichzeitig ist dieses „Angebot“ und der Besuch bei Öcalan auch ein Versuch, opportunistische Teile der kurdischen Bewegung zu ködern und gegenüber den revolutionären Teilen zu stärken, um so gegebenenfalls Widersprüche innerhalb der Bewegung zu vertiefen.

Zumindest aus den Bergen – dem revolutionärem Zentrum der kurdischen Bewegung – wurde diesem Versuch eine Absage erteilt. So erklärte kürzlich HPG-Kommandant Murat Karayilan, dass, „solange die Identitätsrechte des kurdischen Volkes nicht anerkannt“ würden, es „nicht möglich“ sei, die „Guerilla aus dem Spiel zu nehmen“.

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