Mutter zu sein wird als die Erfüllung des Lebens aller Frauen dargestellt. Unter kapitalistischen Verhältnissen sieht die Wirklichkeit sehr viel anders aus. Mütter in Leipzig und Eltern in Berlin werden daher aktiv gegen die Ursachen dieser oft prekären Verhältnisse. – Ein Bericht von Johann Khaldun.
Ein kalter Winterwind treibt die Menschen im Dezember 2023 hastig durch die Leipziger Straßen, als Melanie, eine Mutter aus Lindenau im Westen der Stadt, das Soziale Zentrum Clara Zetkin (SZ) betritt. Auch sie ist getrieben, aber nicht von der Jahreszeit, sondern von den Problemen, die der Kapitalismus für sie als Mutter erzeugt: „Mir ging es scheiße, ich hatte ganz andere Vorstellungen von Mutterschaft. Die Gesellschaft hat mir das Bild verkauft, dass Mutter sein allein schon sehr glücklich macht und alle Probleme, die ich vorher hatte, sich in Luft auflösen. Ich habe dann aber genau die gegenteilige Erfahrung gemacht.“
Melanie ist aber nicht gekommen, um bloß ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Nein, sie ist gekommen, um aktiv zu werden. Sie hat eine Idee mitgebracht und sieht im SZ die Räumlichkeiten, ihre Idee zu verwirklichen. Sie will ein Treffen für Mütter von Müttern organisieren, in dem sie sich über die Probleme der Mutterschaft im Kapitalismus politisch unterhalten, aber auch über allgemeine Probleme des Kapitalismus aus der Perspektive von Müttern austauschen kann. Ihre Idee ist: Mütter sollen sich als politische Subjekte begreifen, nicht nur als Mütter, nicht nur als Betroffene, sondern als handelnde Personen, die einen kämpferischen Beitrag zur Befreiung vom Kapitalismus leisten können und wollen.
Schnell trifft sie in ihrer Suche auf Krissi, die beim Leipziger Solidaritätsnetzwerk organisiert und ebenfalls Mutter ist. Das Treffen sollte sich als großer Glücksfall erweisen: Hier haben sich zwei „Schwestern im Geiste“ getroffen, wie Melanie ein Dreivierteljahr nach Beginn der regelmäßigen Treffen rückblickend mit spürbarer Begeisterung feststellt.
Jetzt finden zwei sich ergänzende Stärken zu einer Einheit zusammen: Das Feuer, das Melanie als von der bürgerlichen Ideologie getäuschte, kämpferische Mutter antreibt und die politische Erfahrung und die ausgeprägte Fähigkeit, die einzelnen Erscheinungen des Patriarchats mit dem Ganzen des Kapitalismus zu verbinden, die Krissi auszeichnen. Vereint in der politischen Absicht und der gemeinsamen Lebenswirklichkeit der Mutterschaft im Kapitalismus machen sich die beiden an die Arbeit.
Alte Hürden und neue Stärken
Aber Moment mal – wieso gibt es solche Projekte, die politische Organisierung von Müttern und Eltern nicht überall in Deutschland? Krissi hat sich darüber Gedanken gemacht: „Es gab und gibt in der politischen Widerstandsbewegung noch immer eine mangelnde Bereitschaft, Mütter zu organisieren. Dafür gibt es verschiedene Gründe, wie z.B. eine falsche Analyse, bei der man davon ausgeht, dass die Bewegung noch nicht bereit dafür ist.
Aber es gibt auch eine Fortsetzung patriarchaler Verhältnisse in der Bewegung selbst. So würden Männer eher gesellschaftlich politisiert, was sich an ihrer Überzahl in der Bewegung zeigt. Es fällt ihnen oft schwer, Frauen zu organisieren. Zudem sind sie häufig unwillig, bei der Kinderbetreuung zu unterstützen, um Müttern politische Freiräume zu schaffen. Und letztlich gibt es auch eine verbreitete mangelnde Flexibilität im Denken, die es nicht erlaubt, sich darüber Gedanken zu machen, wie man Mütter abseits von wöchentlichen Plena oder Demos organisieren kann.“
Auch Alice, eine Mutter aus dem Berliner Stadtteil Fennpfuhl, die dort im Solidaritätsnetzwerk organisiert ist, hat sich solche Gedanken gemacht. Auch sie konnte nicht an jedem Plenum teilnehmen und wollte sich nicht mit der Situation von Müttern und Eltern im Kapitalismus und der Trägheit der linken Bewegung abfinden. Deswegen ist sie aktiv geworden und hat einen Familienbrunch aufgebaut. Sie leitet jetzt die monatlichen Treffen an, bei denen Eltern – mehrheitlich Müttern – durch Kinderbetreuung und ein lockeres Zusammenkommen die Möglichkeit gegeben wird, sich auszutauschen und auch politische Gespräche zu führen.
Was sich in Berlin gerade noch langsam entwickelt, hat in Leipzig unter Krissis und Melanies Leitung rasch große Fortschritte gemacht. Die Politisierung der Treffen, die unter dem Titel „Clara trifft Mütter“ veranstaltet werden, gelingt ganz natürlich. Die Probleme, die der Kapitalismus für die Mutterschaft erzeugt, werden gemeinsam besprochen und in den Zusammenhang mit dieser Gesellschaft und dem Patriarchat gebracht.
Auch grundlegende Themen wie die aktuelle Militarisierung werden aus der Perspektive der Mütter besprochen. So sind Mütter noch stärker von der Doppelbelastung der Frauen im Kapitalismus betroffen. Sie kümmern sich meist um die Pflege von Angehörigen und die Erziehung der Kinder, regeln den Haushalt und werden bei der Lohnarbeit schlechter bezahlt als Männer.
Unter den Müttern hat sich dabei eine eigene Kollektivität und Vertrautheit entwickelt, die es ihnen erlaubt, auch ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die sie unter anderen Umständen vermutlich nicht äußern würden. Aber genau darum geht es: Wegzukommen von der individuellen Schuldzuschreibung und die Wurzeln der Probleme – nicht nur der Mutterschaft – im Kapitalismus aufzuzeigen, um sie wirklich zu lösen.
Melanie beschreibt das neue Gefühl in der Gruppe: „Es ist sehr anstrengend, den Spagat eigener und gesellschaftlicher Anforderungen zu erfüllen und am Ende wird man noch dafür beschämt, es sowieso nie gut genug zu tun. Und dann kommst du hierher und du fühlst dich gut und es ist ein richtiger Ego-push, alle bestärken sich und sind füreinander da – das ist schon ziemlich cool.“
Kämpferisch in die Zukunft
Dass es für die Mütter nicht dabei bleibt, sich besser zu fühlen und Verständnis zu finden, sondern dass diese Gefühle und Einsichten in Aktionen münden, zeigt schon jetzt die erste eigene Kundgebung des Leipziger Müttertreffs. Aus Anlass des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen halten sie am 23. November zum „Roses Revolution Day“ um 10 Uhr eine Kundgebung am Bayerischen Platz ab, in der sie die viel zu wenig beachtete Gewalt in der Geburtshilfe öffentlich thematisieren werden.
Damit kündigt sich nicht nur ein weiteres und vertieftes Zusammenwachsen der Gruppe an. Sie zeigt damit auch praktisch auf, über welch großen politischen Potentiale Mütter verfügen, wie Krissi deutlich macht: „Es kommen gleich zwei Lebenswirklichkeiten zusammen, welche die Kampfbereitschaft der Mütter erhöhen: Die direkte Erfahrung des Patriarchats und der Wunsch nach einer besseren Zukunft für die eigenen Kinder.“
Nächste Treffen:
10.11., 10 Uhr, Leipzig, Soziales Zentrum „Clara Zetkin“, „Clara trifft Mütter”
24.11., 10 Uhr, Berlin, Familienzentrum und Jugendclub „Judith Auer“, „Berliner Elternbrunch”
Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 92 vom November 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.