Vier Jahre und drei Monate Haft für Nazi-Angriff in der Regionalbahn: Warum auch Gerichte in dem bestehenden System keine Inseln der Gerechtigkeit sind, sondern den Interessen der Kapitalist:innen dienen. – Ein Kommentar von Janosch Weiß.
Am 16. April diesen Jahres passiert die rassistische Attacke des schwedischen Staatsbürgers Kasim S. in der Regionalbahn bei Bramsche, Niedersachsen: Während der angegriffene Senegalese zunächst die verfassungsfeindlichen rechten Symbole, die Kasim S. in Bahnsitze ritzte, bewusst ignoriert, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden, eskaliert der schwedische Nazi die Situation. Mit Tritten gegen die Sitzlehne zwingt er den Senegalesen zum Aufstehen, während er skandiert, dass Ausländer das Land verlassen sollen und er Nazi sei.
Ohne Vorwarnung sticht der Schwede sodann mit einem Schraubenzieher auf empfindliche Körperregionen. Die Angriffe richten sich gegen den Hals, Kopf, die Herzgegend sowie den Oberschenkel. Das Opfer kann sich vor den schweren Folgen und schlimmstenfalls dem Tod nur retten, weil er in seiner Jugend Kampfsport gemacht hatte, sportlich und reaktionsschnell ist.
Blutüberströmt kann er den Angreifer abwehren und zu Boden bringen, wo er ihn mit einem Zeugen fixieren kann, bis die Polizei an der nächsten Haltestelle eintrifft. Kasim S. wird daraufhin vor dem Landgericht Osnabrück wegen versuchten Mords, Sachbeschädigung und der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen angeklagt.
Teilverurteilung und Teilfreispruch
Nun wurde Kasim S. am Mittwoch, den 20. November, zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Vom Anklagepunkt „versuchter Mord” wird er jedoch freigesprochen, vor allem da er von der Tat „hinreichend freiwillig“ abgelassen habe. Im Strafgesetzbuch ermöglicht ein solcher freiwilliger „Rücktritt” den Täter:innen die Möglichkeit, für eine noch nicht vollendete Tat im Gegenzug Straffreiheit zu erlangen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Täter dies aus freiwilligen Motiven tut.
Dies erscheint zumindest nach der Berichterstattung höchst fraglich, da der Angreifer zu Boden gebracht und dort von anderen fixiert werden musste. In diesem Zustand ist ein autonomer Willensentschluss in der Regel nicht mehr möglich.
Insgesamt fällt das Urteil – gemessen an der Brutalität und insbesondere der politischen Motivation – mit weniger als fünf Jahren Freiheitsstrafe gering aus. Der Schwede zeigte vor Gericht auch keine Reue, er sieht sich als Nachfahre eines Generals der 21. Gebirgsjäger-Division „Skanderbeg“ der Waffen-SS. Ihm kommt jedoch zugute, dass er allein gehandelt hat. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt war er keiner faschistischen Organisation beigetreten und weist keine Vernetzungen in die faschistische Szene auf. Der Prozess wird von dieser auch nicht politisch begleitet.
Der pure Rassismus, der Kasim S. zur Tat antrieb, wird zwar strafverschärfend berücksichtigt. Im Falle eines Totschlagversuchs würde dieser Beweggrund jedoch ein sogenanntes „Mordmerkmal” darstellen, so dass Kasim S. eine lebenslange Freiheitsstrafe gedroht hätte.
Gerichtliche Samthandschuhe für Faschist:innen
Immer wieder kann festgestellt werden, dass eine erkennbare Diskrepanz zwischen der Strafhärte und Bestrafungsfreudigkeit deutscher Gerichte gegen Faschist:innen einerseits und Menschen aus dem antifaschistischen, sozialistischen oder links-progressiven Spektrum andererseits gibt. Dies ist allerdings kein Zufall, sondern hat in diesem Staat System: Es beginnt bereits vor dem eigentlichen Strafprozess bei der Gründlichkeit der Ermittlungen. Während gegen linke Verdächtigte bisweilen alle repressiven Register gezogen werden – von der Telekommunikationsüberwachung über Hausdurchsuchungen und Observationen – bleibt der Eindruck, dass dies gegen Faschist:innen nicht der Fall ist.
Im Falle dieses Angriffs lautete z.B. die erste Polizeimeldung schlicht, dass es zu einer körperlichen Auseinandersetzung nach verbaler Provokation in einem Zug gekommen sei. Dies klingt eher nach einem eskalierten Streitgespräch als nach rassistisch motivierten Stichen mit einem Schraubenzieher auf einen Ausländer.
Während die Überlebende des NSU-Trios, Beate Zschäpe, zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, gelang es dem Staat nicht, noch weitere Hintermänner des Netzwerks zu ermitteln. Aufbauend auf diesen Ermittlungsergebnissen werden die Beweggründe der Tat durch die Gerichte in unterschiedlichster Form gewichtet. Strafverschärfend wirken dabei zwar rassistische Motive – jedoch gleichermaßen das Ergreifen von Selbstjustiz, wenn die Angriffe Faschist:innen gelten, gegen die der Staat selbst nichts unternimmt.
Sächsische Separatisten – Faschistische Netzwerke werden Normalität
Dabei ist zu bemerken, dass ideologische Motivationen aus der faschistischen Richtung regelmäßig vor Gericht verharmlost werden. Nicht immer werden ausländerfeindliche Motive zum zentralen Gegenstand des Verfahrens, wenn sich Staatsanwaltschaft und Gericht dagegen entscheiden. Hier bleibt es zumeist bei einer oberflächlichen Befragung zu möglichen Tatmotiven. Oft geschieht dies auch erst auf das Drängen der Nebenkläger:innen – also den Opfervertreter:innen, denen vor Gericht deswegen eigene Rechte eingeräumt werden.
Volle Härte gegen Linke
In diesen Kontext gehört auch die Tatsache, dass die Untersuchungshaft vor dem Strafprozess – die noch keine Strafe im engeren Sinne darstellt – häufiger gegen Personen aus dem linken Spektrum eingesetzt wird. Lina E. saß vor ihrer Verurteilung beispielsweise bereits 2,5 Jahre in Untersuchungshaft – ohne Urteil – und galt damit als unschuldig.
Auch die Verurteilung eines kurdischen Aktivisten aus Bremen zeigt die Doppelstandards des deutschen Staats: Kadri Saka wurde vergangene Woche zu zwei Jahren Haft nach §129b Strafgesetzbuch (StGB), also wegen der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland, verurteilt. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass Saka eine einschlägige Position im Bremer Raum für die in Deutschland verbotene PKK einnahm und als Geldeintreiber für sie diente. Als Beweise wurden dabei lediglich das Sammeln von Spenden für einen kurdischen Verein sowie mutmaßliche persönliche Beziehungen zu PKK-Kämpfern gewertet.
Zwei Jahre Haft für Kadri Saka: Politische Justiz gegen kurdische Aktivist:innen
Solche Urteile nach §129a und §129b StGB sind in Deutschland keine Seltenheit und werden regelmäßig gegen organisierte Linke eingesetzt. Setzt man die Verurteilung von Karim S. in diesen Kontext, wirkt die Entscheidung des Gerichts umso verharmlosender. Und dies ist nur eines von vielen Beispielen, welche die Doppelstandards der deutschen Justiz bezüglich politischer Arbeit aufzeigen.
Als Teil des Staats sind die Gerichte dafür verantwortlich, dass Personen, die gegen im Parlament geschaffene Gesetze verstoßen haben, bestraft werden. Deswegen wäre es falsch, diese Gerichtsbarkeit als eine über allem stehende Kraft der Gerechtigkeit zu begreifen.