Seit Jahren steigen die Lebensmittelpreise spürbar an. Inmitten der Teuerungen erfreut sich die „Dubai-Schokolade” größter Beliebtheit, obwohl eine einzige Tafel der mit Pistaziencreme gefüllten Süßigkeit oft 15 oder sogar 20 Euro kostet. Was sagt das über uns aus? – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.
Die Zutatenliste ist längst genauso bekannt wie der Name des Trend-Produkts selbst: Schokolade, Pistaziencreme, Sesampaste und Engelshaar – fertig ist die „Dubai-Schokolade”. Erfunden wurde die Kombination von einer Chocolatier im arabischen Emirat Dubai, die Zubereitungsart basiert auf den Zutaten bekannter arabischer Desserts und einem Schokoladenüberzug. Seitdem eine Influencerin die Schokolade auf TikTok bekannt machte, entfaltete sich ein regelrechter Social-Media-Hype um die Süßigkeit.
Auch in Deutschland sprangen Hersteller und Einzelhändler auf den Zug auf. Gab es die Dubai-Schokolade zunächst vor allem in türkischen und arabischen Konditoreien zu kaufen, verkaufte der bekannte Hersteller Lindt zuletzt sogar handgefertigte und limitierte eigene Dubai-Kreationen. In mehreren Städten standen Hunderte Kund:innen für eine einzige Lindt-Tafel an.
Woher kommt das Bedürfnis?
Egal wie sehr einzelne Hersteller oder Schokoladenfans betonen, dass die Dubai-Kreation besonders schmackhaft, besonders knusprig, besonders cremig sei – die Zusammensetzung des Produkts selbst und auch der Geschmack sind recht unspektakulär. Die palästinensische Süßspeise Knafeh, auf der die ursprüngliche Variation der Dubaischen Schokoladenmanufaktur basierte, ist keineswegs ein Luxusprodukt, sondern im levantinischen Raum in etwa so weit verbreitet wie in Deutschland der Bienenstich.
In Dubai – dem Ort, wo Steaks mit Gold überzogen und an Fußballer und andere Stars verkauft werden – wurde zunächst aus der gewöhnlichen Nachspeise eine Luxus-Schokolade nach dem Vorbild westlicher Feinschmecker-Confiserien. Und mit dem entscheidenden Namenszusatz „Dubai-Schokolade” entstand der weltweite Hype. Denn „Dubai” verspricht Luxus, Reichtum und Außergewöhnlichkeit. Während ein Urlaub in Dubai den Reichen, den Fußballern, Rappern und Influencern vorbehalten bleibt, holen wir uns mit der Schokolade für den kleinen Preis von 15 Euro ein Stück Dubai nach Hause.
Bringt es nun etwas, diejenigen, die dem Hype um die Schokolade folgen, als „Konsumopfer” zu verhöhnen? Vielleicht Klickzahlen. Aber die Kritik am Hype verkennt, dass Dubai-Schokolade nur die Spitze des Eisbergs der ständigen Herstellung von Bedürfnissen im Kapitalismus ist: Unsere Bedürfnisse und Wünsche sind, unabhängig davon ob wir die Pistazienschokolade mögen oder nicht, zutiefst geformt von Werbung, in uns entstehen immer wieder Sehnsüchte nach Produkten, die wir eigentlich nicht benötigen – und für deren Befriedigung wir bereit sind, gesellschaftliche Widersprüche komplett zu vergessen.
„Sollen sie doch Kuchen essen!”
Haben wir uns nicht in den letzten Jahren immer wieder darüber geärgert, dass die Lebensmittelpreise spürbar gestiegen sind? Wie kann es sein, dass wir uns vor zwei Jahren noch gefragt haben, warum ein Döner auf einmal sieben Euro kostet und nun eine Tafel Schokolade für 15 oder 20 Euro restlos ausverkauft wird?
Tatsächlich sind die steigenden Lebensmittelpreise und der kleine Dubai-Luxus nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Während gerade die alltäglich benötigten Lebensmittel heute zum Teil doppelt so teuer sind und sich Arbeiter:innenhaushalte durch Inflation und Reallohnsenkungen deutlich weniger leisten können als vor einigen Jahren, ist es gerade die süße „Kleinigkeit”, die uns inmitten der Krise einen Hauch Exklusivität verspricht.
Expert:innen nennen dieses Phänomen den „Lipstick-Effekt”: Da in Krisenzeiten, so wie in den letzten Jahren in Deutschland, größere Anschaffungen für Arbeiter:innen in weite Ferne rücken, leisten sie sich stattdessen einen gewissen Alltagsluxus, um sich gerade in den Krisenzeiten trotzdem etwas Gutes zu tun. Eine solche luxuriöse Kleinigkeit kann ein Lippenstift sein – oder eben die momentan so gefragte Dubai-Schokolade.
„Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“ – Auch wenn die französische Adelige Marie Antoinette den ihr zugeschriebenen Satz in Wahrheit so nie gesagt hat, so passt die Botschaft in leicht abgewandelter Form auch heute: Selbst wenn wir kein Brot haben, dann wollen wir doch wenigstens Dubai-Schokolade essen!
Letztendlich liegt im süßen Pistaziengeschmack immer die Gefahr, dass wir uns einbilden, dass unsere Lage doch eigentlich gar nicht so schlimm sei – und dabei ignorieren, was um uns herum passiert. Andererseits: Wenn wir uns als Klasse aufraffen und gemeinsam gegen Ausbeutung, Aufrüstung und Unterdrückung auf die Straße gehen, wenn wir gemeinsam den langen Weg hin zur Befreiung aller Menschen einschlagen, dann kann man sich dazwischen auch mal ein Stückchen Dubai-Schokolade gönnen, oder?
Sozialbericht 2024: Die Lage wird nicht besser, bis wir sie bessern.