Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner entlassen. Die Ampelkoalition ist damit nun offiziell zerbrochen. Doch hinter den Schlagzeilen über persönliche Egos und politische Taktiken verbirgt sich ein weitaus tieferliegendes Problem. – Ein Kommentar von Ahmad Al-Balah.
Gestern um 21:15 Uhr trat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor die Presse, um die sofortige Entlassung von Finanzminister Christian Lindner (FDP) und damit das Ende der Ampel zu verkünden. Noch am Abend erklärten alle FDP-Minister – mit Ausnahme von Wissing – ihren Rücktritt. Im Zentrum der politischen Krise steht der Haushalt 2025. SPD und Grüne sehen keinen Weg mehr vorbei an einer Neuaufnahme von Neuschulden. Damit soll die deutsche Wirtschaft im Zuge eines Strukturwandels wieder wettbewerbsfähig gemacht werden.
Doch Christian Lindner hat seinen Wähler:innen versprochen, dass die sogenannte Schuldenbremse unter keinen Umständen gelöst wird. An dieser Wirtschaftsfrage trennen sich nun also die Wege der Parteien. Was wir hier sehen, ist das Resultat aus dem Widerspruch zwischen verschiedenen bürgerlichen Parteien, die ihren grünen, liberalen oder sozialdemokratischen Wähler:innen jeweils Versprechungen gemacht haben, die sie nicht halten können.
Für den Fortschritt aller wurde das Geld zu knapp
Der Plan der Ampel-Koalition, als sie 2021 zusammenfand, war es, mehr Investitionen in die deutsche Wirtschaft zu tätigen. Unter dem Koalitionsversprechen „mehr Fortschritt wagen“ wollte die „Fortschrittskoalition“ eine soziale und grüne Transformation der deutschen Wirtschaft durchführen. Schon damals war klar, dass diese veraltete Wirtschaftsform, mit der deutschen Autoindustrie und dem Verbrennermotor in ihrem Zentrum, einen Kurswechsel vollziehen musste.
Bereits seit 2018 breitete sich die Überproduktionskrise aus. Diese wurde dann durch die Coronapandemie (2019-2021) nur noch verstärkt. Hinzu kam am 24. Februar 2022 ein Ereignis, dass die „Fortschrittskoalition“ im Mark erschütterte: der Angriff Russlands auf die Ukraine. Das Projekt sollte gelingen, ohne die in den alten Industrien angestellten Arbeiter:innen zu verlieren und ohne gegenüber der internationalen Konkurrenz ins Hintertreffen zu geraten. Wieder einmal sehen wir: der Motor des Politischen ist und bleibt die Wirtschaft.
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Globale Krisen: Ein Kampf gegen die Zeit
Der Begriff „Zeitenwende“ des Bundeskanzlers vom 27. Februar 2022 bezog sich nicht bloß auf die globale Weltordnung. Sie brachte auch die Wende der Koalitionspolitik zum Ausdruck. Schon damals war klar: eine soziale Transformation, wie die „Fortschrittsregierung“ zunächst angestrebt hatte, würde so nicht mehr funktionieren. Stattdessen wurde ab dem Zeitpunkt eine Militarisierung der Bevölkerung und des gesamten Staates vorgenommen.
Dies war also eine Reaktion auf die internationale Krise. Inwiefern die russische Invasion auf die Ukraine ebenfalls Ausdruck eines profitorientierten Tauziehens um die Ukraine zwischen den Machtblöcken USA, EU und Russland war, kommentierte Tim Losowsky bereits in der Perspektive.
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Wenn der Motor kein Öl mehr zieht
Mit der sofortigen Abschaltung der günstigen fossilen Energieträger bekam die Koalitionsregierung ein zweites zentrales Problem. Die grüne Transformation ließ sich so nur unter enormen Anstrengungen vollziehen. Es fehlte schlichtweg das Geld, um die Umstellung der deutschen Wirtschaft kurzfristig zu gewährleisten. Ein sogenannter wirtschaftstechnischer „Schock“ ging durch die deutsche Industrie.
Aus diesen wirtschaftlichen Krisen (der Überproduktionskrise seit 2019, die Corona-Pandemie und das sofortige Ende günstiger Energie aus Russland) resultierte die Notwendigkeit für den Staat, einzuspringen und hohe Geldsummen für die deutsche Wirtschaft und die deutsche Bevölkerung aufzubringen, um diese nicht gegen sich aufzubringen.
Doch mit einer kriselnden Wirtschaft seit 2019 und weltweiten Krisen danach standen keine freien Gelder mehr zur Verfügung. Auch das letzte Ass der Ampelkoalition, 60 Milliarden aus dem Klima- und Transformationsfonds für andere Zwecke liquide zu machen, kassierte das Bundesverfassungsgericht ein. Den Haushalt 2024 bekam die Koalition noch irgendwie durch.
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Doch der Haushalt für 2025 wurde von dem – von FDP-Chef Lindner eigenständig angeforderten – juristischen Gutachten erneut als verfassungswidrig eingestuft. Einen ähnlichen Trick für den Haushalt 2024, bei dem Corona-Mittel umfunktioniert werden sollten, hatte das Bundesverfassungsgericht letztes Jahr bereits kassiert. Damit beschwor Lindner die Machtfrage in Sachen Wirtschafts quasi herauf. Mit den Tönen zum „Herbst der Entscheidung“ wollte die FDP den Karren der Regierungsparteien vor sich hertreiben. Doch der Bundeskanzler manövrierte ihn aus und kam ihm mit der Aufkündigung der Koalition zuvor.
Scholz vs. Lindner: „kleinkariert politisch taktiert“
Die Ausgangslage war folgende: Christian Lindner (FDP) wollte die Koalition gezielt zum Platzen bringen. Als Chef einer Partei, die bei der Sonntagsumfrage nur bei ca. 4,5 % steht (Stand 05.11.2024) und Teil einer Koalition ist, mit der nur 3 % der Wählerinnen zufrieden sind, wollte er unbedingt groß auftrumpfen.
Scholz musste währenddessen in seinem Amt als Bundeskanzler unbedingt eine funktionierende Regierung vorweisen, um gut dazustehen. Die Koalition einfach so aufzukündigen, hätte für die SPD und die Grünen deutlich schlechter ausgesehen. Schließlich tragen beide als 2021 meistgewählte Parteien, vor allem eben die SPD, die größte Regierungsverantwortung. Verschiedene Ausgangslagen also, die verschiedene Taktiken erfordern. Letztlich ist es so ausgegangen: Die FDP hat hoch gepokert, die Grünen sich bedeckt gehalten und die SPD ein Machtwort gesprochen.
In seiner Presseerklärung legt Olaf Scholz gewissermaßen seine Taktik offen. Mit der Entlassung Lindners habe er versucht, den Schaden von Deutschland abzuhalten. Er habe dem Koalitionspartner FDP ein Angebot zum Haushalt gemacht, das Energiekosten für Unternehmen deckeln sollte, ein Paket für die Autoindustrie beinhaltete ebenso wie Investitionsprämien, Steuererleichterungen und die Unterstützung für die Ukraine.
Dieser habe aber abgelehnt. Bereits hier deutet Scholz an, dass es im Kern um die Schuldenbremse gegangen sei. Immer nimmt Scholz auch Bezug auf die Unsicherheiten international und in der deutschen Wirtschaft, weshalb er jetzt durchgreifen müsse. Bundesminister Lindner habe Gesetze zu oft „sachfremd blockiert“ und „kleinkariert politisch taktiert“.
Dabei habe die Koalition doch viel Gutes gemeinsam erreicht: SPD, FDP und Grüne hätten schließlich gemeinsam die Migration halbiert, Energiepreise stabilisiert, den Wirtschaftseinbruch aufgehalten und die grüne Transformation – von sozial ist hier schon keine Rede mehr – auf Kurs gebracht.
Lindner wolle nun aber eigene Milliardensubventionen für die Wirtschaft, Rentenkürzungen und den Ausstieg aus der grünen Transformation. Durch seinen Politikstil habe Lindner die deutsche Wirtschaft damit verunsichert, so der Vorwurf des Kanzlers. Gesundheit und Pflege sei bloß der FDP wegen in einem so miserablen Zustand.
Scholz habe wegen der Wirtschaftskrise, dem Ukraine-Krieg oder gleich beidem den Notstand verkünden wollen: Ein Instrument, das der Regierung verfassungskonform erlauben könnte, die Schuldenbremse auszuhebeln. Mit Robert Habeck habe er gesprochen. Die beiden seien sich einig gewesen. Ohnehin sind SPD und Grüne als ehemals größte Regierungsparteien im selben Boot, auch wenn man sich deren Sonntagszahlen anschaut (15 % SPD; 10,5 % Grüne; Stand 05.11.2024). Lindner habe sich dagegen quergestellt.
Abgekartetes Spiel
Lindner sprach nach der Pressekonferenz des Bundeskanzlers von einem „kalkuliertem Bruch“ der Koalition. Scholz habe diesen Schachzug im Vorfeld geplant. Scholz plane, sich in Vorbereitung auf die nächste Wahl mit der CDU zusammenzutun.
Bis Weihnachten, d.h. bis zur letzten Sitzung am 20. Dezember, will Scholz mit den Grünen zusammen folgende wichtige Gesetze mit Unterstützung der CDU durchbringen: Den Ausgleich der kalten Progression, die Rentenreform, eine Asylverschärfung sowie Sofortmaßnahmen für die Industrie. Speziell in den Punkten Verteidigung und Wirtschaft wolle er mit Friedrich Merz (CDU) zusammenkommen. In der ersten Neujahrssitzung wolle er dann die Vertrauensfrage stellen und am 15. Januar die Abgeordneten darüber abstimmen lassen. Bis Ende März könnten eventuelle Neuwahlen auf uns zu kommen.
Dabei wollte Lindner gemeinsam mit Scholz Neuwahlen planen. Dieser ließ ihn aber offensichtlich auflaufen. Lindner habe zudem eine Wirtschaftswende vorgeschlagen, die weniger Steuerlast, weniger für das Klima und weniger Migration beinhaltete. Dies sei nicht einmal als Vorschlag angenommen worden, beklagt er. Scholz stelle „die notwendigen Entscheidungen“, damit die Bürger:innen wieder „stolz auf Deutschland“ sein könnten, hinten an. Scholz habe „ultimativ“ gefordert, die Schuldenbremse abzuschaffen. Das sei nicht mit seinem Gewissen zu vereinbaren.
Auch alle anderen FDP-Minister:innen legten daraufhin am Abend ihre Ämter nieder, nur Volker Wissing will überraschend im Kabinett bleiben und aus der FDP austreten. Das Ende der jetzigen Koalition ist damit besiegelt, die nächste große Koalition steht bevor. Die Machtfrage wäre damit geklärt. Eine Antwort auf die kapitalistische Krise unserer Zeit kann uns das politische Tauziehen der Parteien indes nicht geben.