Vergangene Woche hat der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den israelischen Premier Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Gallant erlassen. Die deutsche Reaktion spricht Bände und zeigt die Doppelbödigkeit der Regierung im Umgang mit internationalem Recht. – Ein Kommentar von Alexandra Baer.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat am Dienstag vergangener Woche Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und dessen ehemaligen Kriegsminister Yoav Gallant erlassen. Außerdem wurde Haftbefehl gegen den Militärchef der Hamas, Mohammed Deif, erlassen, wobei dieser israelischen Angaben zufolge bereits getötet wurde.
Israels Mehrfronten-Krieg – immer noch kein Ende des Sterbens in Sicht
Vorgeworfen werden Netanjahu und Gallant, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza verübt zu haben. Es bestehe Grund zur Annahme, dass Netanjahu und Gallant „absichtlich und wissentlich der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wesentliche Dinge für ihr Überleben einschließlich Nahrung, Wasser sowie Medikamente und medizinische Hilfsmittel sowie Brennstoffe und Strom vorenthalten haben.“
Netanjahu bezeichnet den Beschluss des IStGH als antisemitisch und nennt ihn einen „modernen Dreyfus-Prozess“, wobei er auf einen antisemitischen Prozess in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts anspielt, bei dem der jüdische Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus – obwohl unschuldig – aus judenfeindlichen Motiven heraus verurteilt wurde.
Da der IStGH über keine eigene Durchsetzungsmacht verfügt, sind alle 124 Staaten, die den IStGH momentan als internationales Strafgericht anerkennen, verpflichtet, seine Beschlüsse zu vollstrecken – sprich, die per Haftbefehl gesuchte Person bei ihrer Einreise zu verhaften und nach Den Haag überzustellen.
Der Sprecher des Internationalen Strafgerichtshofs soll am Montag bei den Vereinten Nationen nun jedoch erklärt haben, dass die Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant aufgehoben werden könnten, wenn Israel eine glaubwürdige und gründliche nationale Untersuchung der Vorwürfe vorlege.
Haftbefehl Netanjahus: Bundesregierung steht vor Dilemma
Der Haftbefehl gegen Netanjahu führt die deutsche Bundesregierung in eine PR-Krise: Einerseits stellt der israelische Staat einen der engsten Verbündeten dar, auf der anderen Seite beruft sich die deutsche Regierung immer wieder auf den IStGH und das internationale Völkerrecht, um ihren eigenen imperialistischen Kurs zu verteidigen.
Reaktionen auf möglichen Netanjahu-Haftbefehl: Die Maske ist gefallen
Die Bundesregierung hat nun angekündigt, prüfen zu wollen, was der Haftbefehl bedeuten würde. Bundeskanzler Scholz‘ Sprecher kann sich jedoch nur „schwer vorstellen, (…) auf dieser Grundlage Verhaftungen durchzuführen“. Auch Außenministerin Baerbock antwortet zunächst ausweichend: Deutschland werde sich an „Recht und Gesetz halten“. Auf Nachfrage, was das denn konkret bedeuten würde, fügte Baerbock hinzu: „Wir prüfen, was das für die Umsetzung in Deutschland bedeutet.“
Doch das ist eigentlich gar nicht so schwer: Wenn Deutschland den IStGH als internationales Strafgericht anerkennt, was es in der Vergangenheit getan hat, dann sind die hiesigen Behörden verpflichtet, den israelischen Premierminister festzunehmen, sollte dieser deutschen Boden betreten: Haftbefehl gleich Festnahme.
Die Bundesregierung scheint im Fall um Netanyahu jedoch ihre Schwierigkeiten zu haben, diese Schlussfolgerung zu ziehen – als der IStGH hingegen im März 2023 einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Vladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten erlassen hatte, war das nicht so. Damals sagte Bundeskanzler Scholz noch: „Der internationale Strafgerichtshof ist die richtige Institution, Kriegsverbrechen zu untersuchen“ und betonte, dass „niemand über Recht und Gesetz steht“.
CDU/CSU-Fraktion hält Verhaftung Netanjahus für unvorstellbar
Während die Bundesregierung also noch mit sich hadert, ob sie einen Beschluss des höchsten Gerichtshofes für Kriegsverbrechen und humanitäres Völkerrecht anerkennt, erklären CDU und CSU eine Verhaftung Netanjahus in Deutschland sogleich für „unvorstellbar“. Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Jürgen Hardt, zweifelt an der Zuständigkeit des IStGH für mögliche israelische Kriegsverbrechen und stört sich an einer „Gleichsetzung der demokratisch gewählten Regierung Israels mit der offen terroristischen Hamas – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des immer noch offenen Schicksals etlicher israelischer Geiseln“.
Das Schicksal der rund zwei Millionen Palästinenser:innen in Gaza und im Westjordanland scheint der CDU/CSU-Fraktion jedoch nicht so sehr am Herzen zu liegen: Seit Oktober 2023 wurden nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums mindestens 44.179 Palästinenser:innen in Gaza getötet, darunter 17.492 Kinder, und mindestens 104.473 Menschen verletzt. 1,9 Millionen Palästinenser:innen wurden seit Oktober 2023 aus Gaza vertrieben und 80 Prozent des Gazastreifens unterliegen israelischen Evakuierungsbefehlen.
Dabei bombardiert die israelische Armee auch Gebiete, die von ihr selbst als „humanitäre Zone“ eingerichtet wurden. Laut UN-Vertreter:innen gäbe es deshalb keinen sicheren Rückzugsort mehr in Gaza. In den letzten Tagen wurden zudem rund 10.000 Behelfsunterkünfte durch heftige Regenfälle überschwemmt und beschädigt.
Wichtigster Verbündeter Israels droht Vertragsstaaten mit Sanktionen
Die USA, die – wie auch Israel – den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennen, hat derweil klare Worte an ihre westlichen Verbündeten gerichtet: Sollten Staaten wie Kanada, Großbritannien, Deutschland und Frankreich die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Netanjahu und Gallant vollstrecken, würden ihnen Sanktionen drohen, so der US-Senator Lindsey Graham am vergangenen Freitag.
Der französische Außenminister Jean-Noel Barrot erklärte dennoch am Sonntag, dass Frankreich den Beschluss des IStGH gegen den israelischen Premierminister einhalten werde. Auch Kanada hatte bereits vor den Drohungen der USA erklärt, den Haftbefehl des IStGH gegen Netanyahu und Gallant zu befolgen. Die Regierungen Italiens, Großbritanniens und der Niederlande schlossen sich dem an.
Der Fall zeigt nicht nur die Doppelstandards, welche die BRD geht. Er zeigt auch, wie der Internationale Strafgerichtshof, der von den westlichen Imperialisten als vorgeblich neutrale Institution ins Leben gerufen wurde, von seinen eigenen Urheber:innen nicht mehr ernst genommen wird, sobald er einen der ihren verurteilt.