Im Zuge des Protests gegen ein neues Investitionsabkommen mit Russland stürmten am Freitag Demonstrant:innen in der abchasischen Hauptstadt Suchumi das örtliche Parlament sowie den Präsidentensitz. Die Exekutive reagierte mit Tränengas, übereinstimmende Berichte sprachen von einigen Verletzten.
Abchasien, eine Region an der Nordostküste des Schwarzen Meers im Süden des Kaukasus, ist seit Jahrzehnten Schauplatz geopolitischer Konflikte und ökonomischer Interessen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und einem blutigen Krieg gegen Georgien in den 1990er Jahren erklärte Abchasien einseitig seine Unabhängigkeit. Doch statt der ersehnten Autonomie geriet die Region in eine immer tiefere Abhängigkeit von Russland. Die aktuelle Kontroverse um ein Investitionsabkommen mit Russland zeigt die Bruchlinien zwischen ökonomischen Zwängen, nationaler Souveränität und kultureller Identität.
Wirtschaftliche Kontrolle als Mittel der Macht
Das Investitionsabkommen, das die abchasische Regierung noch im Jahr 2024 mit Russland schließen wollte, gewährt russischen Investor:innen beispiellose Privilegien. Unter anderem sind Steuerbefreiungen für bis zu acht Jahre vorgesehen, Zollerleichterungen und eine Lockerung von Gesetzen, die bisher den Verkauf von Immobilien an Ausländer verbieten. Diese Maßnahmen stehen exemplarisch für imperialistische Strategien, bei denen wirtschaftliche Abhängigkeit gezielt eingesetzt wird, um politische Kontrolle auszuüben.
Seit Jahren finanziert Russland die Region mit direkten Subventionen und hat sich Monopolrechte für Schlüsselindustrien, wie z.B. den Energiebereich, gesichert. Im Jahr 2024 beanspruchte der russische Staatskonzern Rosneft das Monopol auf Öl- und Gasexporte nach Abchasien, was die lokalen Märkte kurzfristig destabilisierte.
Wahlen in Georgien und Moldau: Ein imperialistisches Tauziehen
Abhängigkeit und kulturelle Entfremdung
Der zentrale Konflikt um das Abkommen liegt in der Öffnung des Immobilienmarkts für russische Investor:innen. Die abchasische Bevölkerung fürchtet, dass ein massiver Zustrom von russischem Kapital nicht nur die wirtschaftliche Landschaft, sondern auch die kulturelle Identität der Region zerstören könnte. Bislang war der Verkauf von Land an Ausländer verboten, um die kulturelle Eigenständigkeit zu bewahren. Viele Demonstrant:innen sehen dies als letzten Schutzwall gegen eine vollständige Assimilation durch Russland.
Das Schicksal der Tourismusbranche, einer der wenigen eigenständigen Wirtschaftszweige Abchasiens, ist ein Beispiel für diese Bedrohung. Lokale Betriebe könnten durch die steuerlich begünstigte Konkurrenz russischer Großinvestoren verdrängt werden. Dies würde nicht nur Arbeitsplätze vernichten, sondern auch die Kontrolle über die touristischen Ressourcen der Region an externe Kapitalinteressen abtreten.
Klassenkampf: Protest als Widerstand
Die aktuellen Proteste gegen das Abkommen sind ein Ausdruck des Klassenkampfs: Auf der einen Seite stehen die politischen und wirtschaftlichen Eliten Abchasiens, die enge Verbindungen zu russischen Geschäftsinteressen pflegen. Präsident Aslan Bschania, der das Abkommen unterstützt, wird dabei von vielen als Marionette des Kremls betrachtet. Auf der anderen Seite stehen die Arbeiter:innenklasse und die lokalen Unternehmer:innen, die in dem Abkommen eine existenzielle Bedrohung sehen.
Die Demonstrationen, bei denen tausende Menschen das Parlament in der Hauptstadt Suchumi stürmten, verdeutlichen die tief sitzende Unzufriedenheit der Bevölkerung. Neben der Rücknahme des Abkommens fordern die Protestierenden auch den Rücktritt von Präsident Bschania. Dieser Widerstand zeigt die Spannungen zwischen einer kapitalistisch orientierten Elite und der breiten Bevölkerung, die unter den Konsequenzen solcher Deals zu leiden hat.
Abchasien und Georgien
Die Wurzeln des Konflikts um Abchasien reichen zurück in die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion. Als Georgien 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, strebte Abchasien eigene Autonomierechte an. Doch die georgische Regierung unter Swiad Gamsachurdia reagierte mit einer Politik der Zentralisierung, die den Bürgerkrieg von 1992–1993 auslöste. Mit Unterstützung Russlands und nordkaukasischer Milizen erlangte Abchasien die faktische Unabhängigkeit. Doch anstelle eines souveränen Staates blieb Abchasien international isoliert. Nur wenige Länder, darunter Russland, Syrien und Venezuela, erkennen die Region als unabhängig an. Diese Isolation hat Abchasien in eine vollständige wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von Russland getrieben, das die Region als strategischen Puffer gegen den Westen nutzt.
Die ethnische Vielfalt Georgiens war seit seiner Unabhängigkeit eine Quelle von Spannungen. Der erste Präsident, Swiad Gamsachurdia, verfolgte eine zentralistische Nationalpolitik, welche die Rechte von Minderheiten wie den Abchasen und Südosseten massiv einschränkte. Besonders problematisch war der Versuch, Abchasien seine Autonomie zu entziehen, was zur Eskalation des Konflikts führte. Diese Politik schuf eine tiefe Spaltung, die Russland später ausnutzte, um seinen Einfluss zu sichern. Die Abchas:innen sahen Moskau als Schutzmacht, was sie langfristig jedoch in eine neue Abhängigkeit führte.
Der Ukraine-Krieg
Der Ukraine-Krieg hat die geopolitische Bedeutung von Regionen wie Abchasien ins Zentrum gerückt. Russland nutzt Abchasien – wie auch die Separatistengebiete in der Ostukraine – als geopolitisches Instrument, um Einfluss auszuüben und westliche Machtstrukturen wie die NATO zu untergraben. Gleichzeitig spiegeln die Ereignisse in Abchasien die Strategie Moskaus wider, Minderheitenkonflikte in ehemaligen Sowjetstaaten zu fördern, um Kontrolle auszuüben. Die russische Unterstützung für Abchasien, aber auch für die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, zeigt eine Politik der Zerstückelung feindlicher oder mit konkurrierenden Mächten umkämpfter Staaten, wie sie auch von anderen Großmächten verfolgt wird.
Westliche Berichterstattung: Vereinfachte Narrative
In der westlichen Berichterstattung wird der Konflikt oft auf eine vereinfachte Erzählung heruntergebrochen: Russland als aggressiver Expansionist, Georgien als Opfer, und Abchasien als eine Art Marionettenstaat. Diese Perspektive ignoriert die inneren Widersprüche und sozialen Spannungen innerhalb Abchasiens. Die Proteste, die von vielen westlichen Medien nur am Rande erwähnt werden, verdeutlichen, dass die abchasische Bevölkerung nicht geschlossen hinter Russland steht. Zudem wird selten reflektiert, wie die geopolitischen Interessen des Westens – insbesondere der NATO – ebenfalls zur Instabilität in der Region beigetragen haben.
Das Investitionsabkommen ist mehr als ein wirtschaftlicher Vertrag. Es symbolisiert die zunehmende Unterwerfung kleiner Staaten und Regionen unter die Interessen des globalen Kapitals. Die Proteste in Abchasien sind ein Kampf um nationale Souveränität, der sich gegen dieses System der Unterwerfung richtet.