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Versammlungsfreiheit bei Palästina-Demos: Daten zeichnen unzureichendes Bild

Dem deutschen Staat wird nun seit über einem Jahr immer wieder unterstellt, Pälastina-solidarische Demonstrationen willkürlich zu verbieten. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International prangerte dies an. STRG_F liefert nun Zahlen – doch um das Ausmaß der Repression zu verstehen, muss man tiefer blicken.

„Europaweit schränken Behörden vor allem Palästina-solidarische Proteste ein oder verbieten sie gänzlich. Diese Maßnahmen sind oft unverhältnismäßig und verstärken teilweise rassistische Vorurteile und Stereotypisierungen“, so Amnesty International in einem Bericht im Juli 2024 über die Demonstrationsverbote. Wie stellt sich aktuell die Lage laut der erstmals veröffentlichten Zahlen dar?

Von 31.800 Versammlungsanmeldungen zwischen Oktober 2023 bis März 2024 in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sowie den Stadtstaaten Hamburg und Berlin wurde rund ein Prozent verboten. Aus diesen Bundesländern konnte STRG_F – ein Reportageformat des Norddeutschen Rundfunks (NDR) – per Nachfrage auf Daten zurückgreifen. Die Datenerhebung zeigt also kein vollständiges Bild.

Von diesem 1 Prozent hatten 41 Prozent Versammlungsanmeldungen einen pro-palästinensischem Bezug und stellen damit die zweitgrößte Gruppe, die unter Versammlungsverboten litt. Auf dem ersten Platz liegen die Bauernproteste, die rund 52 Prozent ausmachten, was 112 Versammlungen entspricht. Diese konzentrierten sich jedoch auf den Erzgebirgskreis, dort wurden 103 geplante Aktionen verboten.

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Verbote im Vorhinein

Besonders in Berlin, aber auch in vielen anderen Städten kam es nach dem 7. Oktober 2023 zu Demo-Verboten. Vor allem in den ersten Wochen wurden unzählige Aktionen schon vorher durch Allgemeinverfügungen verboten, bzw. Anmeldungen unterbunden. Diese Aktionen tauchen also erst gar nicht in den Statistiken auf.

Auch bei den Demonstrationen zum 7. Oktober diesen Jahres gab es den Versuch, Demonstrationen von vorn herein zu verbieten, wie beispielsweise in Frankfurt am Main. Dort konnte die Demonstration jedoch nach dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichts schlussendlich stattfinden.

Clemens Arzt, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, steht den Verboten im Vorfeld sehr kritisch gegenüber: „Nach den über Jahrzehnte entwickelten Grundsätzen in der Rechtsprechung zum Versammlungsrecht können Meinungskundgaben bei Versammlungen allenfalls dann unterbunden werden, wenn diese gegen das Strafrecht verstoßen. Verbote im Vorhinein verkennen den Schutz der im Grundgesetz verankerten Meinungs- und Versammlungsfreiheit und sind weder notwendig noch verhältnismäßig.“

Auch die Allgemeinverfügungen sind für ihn inakzeptabel: „Jedes Verbot und jede Auflösung einer Versammlung hat bestimmte rechtliche Anforderungen, das heißt eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“, so Arzt. „Das widerspricht eigentlich der Kernidee von Artikel 8 des Grundgesetzes.“

Repression gegen Einzelpersonen und Organisationen

89 verbotene pro-palästinensische Demonstrationen waren jedoch nicht die einzige Vorgehensweise gegen die Massenbewegung. Auf palästina-solidarischen Demonstrationen konnte man immer wieder die brutale Gewaltanwendung der Polizei beobachten – besonders in Berlin. Dabei war es egal, ob es sich um Kinder und Jugendliche oder ältere Personen handelte. Mit Pfefferspray, Schlagstöcken und Verhaftungen wurde in der Vergangenheit sogar gegen erlaubte Demonstrationen vorgegangen.

Zudem wird nicht nur die Versammlungsfreiheit maßgeblich eingeschränkt, sondern auch die Meinungsfreiheit. So wurde vor wenigen Wochen erstmals eine Aktivistin für das Rufen der Parole „From the river to the sea – Palestine will be free“ verurteilt. Die eigentlich von der Meinungsfreiheit gedeckte Parole wird zunehmend für die Kriminalisierung der Bewegung genutzt.

Verurteilung wegen „From the River to the Sea“-Parole in Berlin

Auch Hausdurchsuchungen wurden aufgrund von Palästina-Solidarität durchgeführt. Ein Fall in Augsburg zeigt hierbei die Willkür des Staatsbesonders deutlich: Dort wurden vier Wohnungen durchsucht, weil Aktivist:innen im November 2023 Plakate im Stadtteil mit Slogans wie „Widerstand gegen Besatzung ist legitim“ aufgehängt hatten. Monate zuvor schon hatte die Berliner Polizei 170 Beamt:innen bei Hausdurchsuchungen gegen die Frauenorganisation Zora eingesetzt – auch nur wegen eines Instagram-Posts.

Das Verbot mehrerer Organisationen seit dem 7. Oktober zeigt ebenfalls das Ausmaß der Repression: So wurde das palästinensische Gefangenennetzwerk Samidoun am 2. November 2023 in Deutschland verboten. 2024 kam es zu weiteren Verboten: Zum Beispiel wurde die erst 2023 gegründete Gruppe Palästina Solidarität Duisburg verboten.

Neue Antisemitismus-Resolution

Darüber hinaus öffnet die am 7.11.2024 gerade verabschiedete Antisemitismus-Resolution Tür und Tor für noch mehr Repression. In ihr werden Antisemitismus und Antizionismus gleichgesetzt. Auf die allgemeine Resolution folgte eine spezifische, die einen besonderen Fokus auf das Bildungswesen legt: Studierende, die Widerstand leisten, sollen suspendiert oder exmatrikuliert werden, und Professor:innen sowie auch Dozierende werden in ihrer Forschung beschränkt. Die Resolution ist als Antwort auf die Studierenden-Proteste, die sich in Protestcamps vor Hochschulen oder auch Hörsaal-Besetzungen ausdrückten, zu betrachten.

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Unter dem Strich wurde also nicht nur die Hälfte der recherchierten Versammlungsverbote gegen pro-palästinensische Demonstrationen ausgesprochen, sondern an allen Ecken und Enden wurden die Schlupfwinkel für staatliches Eingreifens aufgespürt und ausgebaut, um den Widerstand gegen den Genozid in Gaza zu unterbinden.

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