„Talahon“ oder „Randalierer“: Junge Migrant:innen sind gerade besonders im Visier rassistischer Hetze in Deutschland. Parallel dazu kommt es aus den Reihen junger Migrant:innen in den letzten Jahren an Silvester immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und wahllosen Sachbeschädigungen. Was der Hintergrund dieser Aktionen ist und wie sie rassistisch ausgenutzt werden – ein Kommentar von Fridolin Tschernig.
„Diese Krawalle sind auch ein Migrationsproblem“, titelte die BILD noch 2023. Sie meinten damit die kleinen Aufstände von migrantischen Jugendlichen an Silvester in Städten wie Leipzig, Berlin oder Stuttgart. Diese Bölleraktionen und Randale zum Jahreswechsel finden schon eine ganze Weilestatt. Und junge migrantische Jugendliche spielen dabei eine Rolle – auch bei Angriffen auf Polizei und Feuerwehr.
Warum passiert das?
Diese „Ausschreitungen“ an Silvester sind Ausdruck einer verzweifelten Situation: Das ganze Jahr über werden Migrant:innen auf offener Straße schikaniert, angegangen, beleidigt, willkürlichen Kontrollen unterzogen usw. – und das alles eben auch von der deutschen Polizei. Gegen dieses offen rassistische Vorgehen, das nicht selten in Polizeigewalt ausufert, kann man sich im Alltag nur schwer erfolgreich wehren.
Dazu kommt noch die schlechtere Behandlung in der Schule, auf dem Arbeitsplatz oder beim Amt. Von den Politiker:innen aus dem Bundestag hören Migrant:innen Tag ein und aus meist nur Lippenbekenntnise, denn dort werden sie nur dann erwähnt, wenn es um billige Arbeitskräfte geht. Ansonsten gelten sie als gewalttätig, und es wird gefordert, sie abzuschieben. Dabei betonen Forscher:innen, dass Migration keine direkte oder zentrale Ursache für Straffälligkeit sei. Im rassistischen Wirbel der Medien und Hetze gegen „Talahons“ und „Messer-Männer“ und dem Ruf nach mehr Abschiebungen macht sich unter jungen Migrant:innen nicht selten eine Wut auf all das breit: auf die Politik, die Behörden, die Medien – auf das ganze System eben!
Rassistische Politik
Gerade in den letzten Jahren ist die rassistische Politik in Deutschland unverhüllter geworden: Olaf Scholz fordert „Abschiebungen im großen Stil“, die Ampelregierung setzte gleich mehrere Verschärfungen des Asylrechts durchs. Und nach dem Attentat in Solingen werden gleich alle Migrant:innen unter den Generalverdacht des Islamismus gestellt. Auch vor dem gesellschaftlichen Klima macht diese Politik keinen Halt. Mit dem beliebten Jugendwort „Talahon“ werden migrantische Jugendliche als aufmüpfig und gewalttätig stilisiert. Mit dem Sylt-Schlager „Ausländer Raus!“ auf Basis der Melodie von „L’amour toujours“ wird dazu noch gleich die passende Parole gefunden.
Gerade die Jugendlichen haben sich noch nicht damit abgefunden, wie die rassistischen Verhältnisse in Deutschland aussehen. Ihnen springt die Ungerechtigkeit förmlich ins Auge. Und es regt sich dagegen auch Widerstand.
Böller und Wut
Silvester stellt dann solch eine Art Ventil dar, durch das diese ganze Wut einmal entladen wird. Auf der Eisenbahnstraße in Leipzig oder der Sonnenallee in Berlin werden zuvorderst die Behörden angegriffen. Welches Blaulicht da genau vorbeifährt – ob Polizeiwanne oder Feuerwehrauto – ist dann erst einmal egal.
Das ist als eine Art des Widerstands gegen diesen Staat zu sehen. Nur eben nicht in geordneten Bahnen. Die Wut bricht los gegen alles, was zum rassistischen Alltag dazugehört und ihn absichert. Mülltonnen werden angezündet und Barrikaden gebaut.
Vermehrt mediale Hetze
Zynischerweise melden sich nach Silvester dann die eigentlichen Verursacher wieder zu Wort: Politiker:innen hetzen gegen die „gewalttätigen Ausländer“, BILD, Welt, SPIEGEL und Co. fordern wieder ein härteres Vorgehen gegen Geflüchtete. Sie alle drängen dann auf mehr Abschiebungen, härtere Gesetze und mehr Befugnisse für die Polizei.
Dabei ist es gerade erst dieser Rassismus, der die blinde Wut in den Jugendlichen weckt. Es wirkt fast schon wie ein eingespieltes Theaterstück: Erst gibt es unzählige rassistische Polizeikontrollen, hunderte Artikel deutscher Medien über das „Ausländerproblem“ und migrantische Tote in Polizeigewahrsam. Und dann tut man so, als ob man sich über die Wutausbrüche und die Randale wundern würde. Darauf folgt: nur noch die nächste Forderung, alle Gesetze zu verschärfen. Und das Spiel beginnt von Neuem in jedem neuen Jahr. Die Rollen für Gut und Böse sind dabei für die Öffentlichkeit stets klar verteilt.
Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 93 vom Dezember 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.