Heute vor 20 Jahren ereignete sich die größte Flutkatastrophe unserer Zeit. Was uns die Geschichte aus Thailand und Indonesien über Solidarität angesichts großer Krisen lehrt – Ein Kommentar von Finn Krummbach und Sina Bräter.
Heute am 2. Weihnachtsfeiertag 2004 gingen Medienberichte um die Welt: Ein Erdbeben nahe der indonesischen Insel Sumatra löste mehrere Tsunamis aus. Es war das drittschwerste Seebeben seit den globalen Aufzeichnungen. Geschätzt 230.000 Menschen starben damals. Eine halbe Millionen Menschen wurde obdachlos. Die Ursachen sind weiterhin unklar.
Die Tsunamiwellen breiteten sich über den gesamten indischen Ozean bis nach Afrika aus und gingen als die bisher schwerste Naturkatastrophe des 21. Jahrhunderts in die Geschichte ein. Die Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft und Ökologie waren enorm. Die Schäden wurden auf rund sieben Milliarden US-Dollar geschätzt. Verunreinigtes Wasser führte noch lange danach zu Infektionskrankheiten.
Seit dem Tsunami, der von Indonesien bis Südafrika Küstenstreifen verwüstete, wurden Frühwarnsysteme entwickelt und mit europäischen Hilfen Wiederaufbau geleistet. So verfügt Indonesien seit 2008 über ein Tsunami-Frühwarnsystem. Es war mit deutscher Hilfe aufgebaut und 2011 an den indonesischen Dienst für Erdbeben, Meteorologie und Klimatologie übergeben worden. Doch was den Menschen 2004 und 2005 vor Ort sofort geholfen hatte, war Solidarität.
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Thailand: Regierung des Tourismus
Auf der thailändischen Insel Ko Phi Phi hatte der Tsunami über die unmittelbaren Schäden und Todesopfer hinaus weitreichende Auswirkungen. Jahrelang versuchte die Zentralregierung, zahlungskräftige „Qualitätstouristen“ ins Land zu locken und aus Ko Phi Phi eine Luxusdestination zu machen.
Die Katastrophe sollte genutzt werden, um die Insel auf Kosten der lokalen Bevölkerung lukrativer zu machen. Bereits am 12.01.2005 wurde ein Plan der Regierung vorgelegt, die Insel unter den Vorwand des Katastrophenschutzes neu zu strukturieren.
Die Inselbevölkerung sollte auf höher gelegene Teile der Insel umgesiedelt werden, wofür nicht nur der Ankauf von Flächen, sondern auch Enteignungen der Bevölkerung umgesetzt werden sollten. Diese antwortete auf die Pläne mit Protest: Anfang März 2005 marschierten damals 30 Inselbewohner:innen in die Hauptstadt Bangkok. Sie forderten Premierminister Thaksin auf, die Pläne zu verwerfen, da sie ihre Vertreibung zu Gunsten großer Unternehmen befürchteten.
Es handle sich um eine „Verschwörung“ aus Regierungsbeamte:innen, Politiker:innen und Investor:innen, um einen Profit aus dem Leiden der Dorfbewohner zu schlagen, so einer der Bewohner damals. Seitdem herrscht Angst vor dem politischen Nachbeben, einem „zweiten Tsunami“. Die logische Konsequenz für sie war der Widerstand.
In Folge des Protests versuchte die thailändische Regierung durch einen Baustopp, die Region wirtschaftlich ausbluten zu lassen, um die zerstörten lokalen Betriebe vom Markt zu verdrängen. Der nötige Wiederaufbau sollte ins Ungewisse verzögert werden, um der Bevölkerung ihre wirtschaftliche Grundlage zu entziehen und den Widerstand zu brechen. Der Besitz über Grundflächen sollte so an einflussreichere Akteure übergehen.
Solidarität auf Ko Phi Phi
Ein Zusammenschluss von Hilfsinitiativen konnte durch Soforthilfe und Aufrufe an Tourist:innen, die lokale Bevölkerung zu unterstützen, ihre Grundlage wieder aufbauen. In den Monaten nach dem Tsunami räumten die Freiwilligen nicht nur hunderte Tonnen Trümmer beiseite, sondern reparierten die Schule und das Inselkrankenhaus, legten Wege an und pflanzten Palmen.
Die Bevölkerung des Touristenparadieses setzten auf die richtige Karte, die internationale Solidarität der Tourist:innen. Denn die Bevölkerung konnte die geplante Umsiedelung damit verzögern und eindämmen.
Und heute?
Heute ist der Tourismus weiterhin die größte Einnahmequelle der Insel. Großinvestoren haben Ressorts aufgebaut, aber der Einfluss der widerständigen Bevölkerung ist nicht wegzudenken. Statt einer 2005 von der Regierung geplanten Luxustourismusinsel wird ein Tourismus in kleinerem Maßstab im Einklang mit der Natur und den Inselbewohner:innen angeboten.
Obgleich auch heute noch Investor:innen auf ihre Kosten leben, konnten sie die Vertreibung abwenden. Trotzdem zeigt das Beispiel, wie Krisen und Katastrophenereignisse genutzt werden, um in einem Schwung Kapital möglichst profitabel anzulegen. Gleichzeitig sind die Bewohner:innen Ko Phi Phis ein Beispiel dafür, wie Menschen durch ihren Zusammenschluss ihre Existenz verteidigen können.
Wiederaufbau im indonesischen Aceh
Die Katastrophe, die das indonesische Banda Aceh besonders hart traf, führte dort durch einen anhaltenden Waffenstillstand zum Ende eines langen bewaffneten Konflikts zwischen Separatisten und dem indonesischen Staat.
2004 waren dort die Wellen mit bis zu 51 Metern Höhe am höchsten und gewaltvollsten. Ein Drittel der Einwohner der Provinzhauptstadt kam ums Leben. Es starben in kürzester Zeit 170.000 Menschen.
Doch auch wenn in der muslimischen Provinz der Tsunami als Zeichen Gottes für ein Ende des zermürbenden Kriegs gedeutet wird, sind die Widersprüche dort längst nicht aufgelöst. Die Provinz Aceh ist weiterhin die ärmste des Landes und viele wünschen sich bis heute eine selbstbestimmte Verwaltung. Der indonesische Staat konnte seine Interessen, wie die Abschaffung der dort geltenden Scharia, seinerseits ebenfalls nicht durchsetzen.
Auch wenn hier ein großer Teil der Hilfsprojekte und ein relativ schneller Wiederaufbau stattfand; viele Tsunami-Überlebende kehrten gar nicht erst in die auf ihren Parzellen zur Verfügung gestellten Häuser zurück. Hier leben nun viele arme Zuwanderer:innen, die sich ein Leben im Tsunami-sicheren Inland nach der Katastrophe nicht mehr leisten konnten, da die Mieten und Grundstückpreise im sicheren Landesinneren in der Folge explodierten. Leute mit genügend Mitteln siedelten sich in den Stadtteilen dort an und vermieteten ihre wiederaufgebauten Häuser in Küstennähe an Dritte.
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Cash-for-Work funktioniert so nicht
Medien wie Die Welt stellen Aufrufe und Kampagnen von Philanthropen wie Thomas Gottschalk und die vermeintlich selbstlose Hilfe von Unternehmen wie Ebay und DHL in den Vordergrund, um anekdotisch an die Solidarität von vor 20 Jahren zu erinnern. Doch zum Beispiel die „cash-for-work“-Programme auf Sumatra zeigen – wie Hilfsprogramme aus dem imperialistischen Zentrum so oft – wie wenig die verantwortlichen Philanthropen meist die Gegebenheiten vor Ort verstehen – und damit oft mehr Schaden anrichten, als sinnvoll zu helfen.
Mit Bargeld für Arbeit sollte der Wiederaufbau der Dörfer in Aceh beschleunigt und den Menschen dafür ein Einkommen garantiert werden. Doch die Basis der Dorfgemeinschaft war zuvor die solidarische Hilfe aus freiwilligem Antrieb. Nachdem die Helfenden aber Bezahlungen erhielten, die nach Auslaufen der Hilfsgelder ausblieben, weigerten sich viele Dorfbewohner:innen, unentgeltlich weiter zu helfen und erwarteten nun für ihre Gemeinschaftsarbeit eine Entlohnung.
Die Moral
Menschen in Deutschland und überall auf der Welt brachten Mitgefühl auf und zeigten sich solidarisch mit den Opfern der Katastrophe. Schon im ersten Quartal 2005 hatten Hilfsorganisationen mehr Spenden gesammelt als im gesamten Vorjahr. Doch die Hilfe effektiv zu koordinieren, stellt in der kapitalistischen Weltordnung eine praktisch unlösbare Herausforderung dar.
Damals verschwanden große Geldsummen, die Projekte wurden von oben herab und ohne das nötige Know-how über die entsprechenden Regionen durchgeführt und verfehlten so teilweise die gutgemeinten Ziele.
Doch selbstverständlich ging es auch nicht nur um selbstloses Samaritertum, sondern immer auch um die Inszenierung der imperialistischen Staaten wie Deutschland, Japan oder Schweden als solche und deren wirtschaftliche und politische Interessen vor Ort. Internationale Krisenhilfe kann nicht effektiv funktionieren in einem System, in dem es regionalen Gemeinschaften an eigenen Mitteln fehlt, um selbst reagieren zu können.
Ko Phi Phi und Aceh zeugen von internationaler und lokaler Solidarität. In beiden Fällen wurde diese über die Zeit durch Kapitalinteressen verdrängt. Das ist eine Lehre. Die andere ist, dass Menschen in Katastrophen und schwierigsten Lagen zusammenrücken können und sich gegenseitig helfen. Darauf lässt sich aufbauen.
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