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Eskalation in Syrien: Kurdische Kräfte verkünden Generalmobilmachung

Am Mittwoch hat die HTS-Miliz in den nordsyrischen Regionen um Idlib und Aleppo eine Offensive gestartet. Dutzende Dörfer und Städte wurden seitdem eingenommen. Kurdische Kräfte aus Rojava rücken ebenfalls vor, um die Bevölkerung zu schützen.

Aktuell finden die intensivsten Kämpfe im Bürgerkriegsland Syrien seit einem vorläufigen Waffenstillstandsabkommen im Jahr 2020 statt. Bisher kontrollierte die djihadistische Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) die Stadt Idlib in Nordsyrien und anliegende Gebiete. Am 27. November startete die HTS-Miliz dann eine Offensive auf Gebiete, die unter Kontrolle des Assad-Regime stehen.

Bei den Kämpfen sind innerhalb weniger Tage bereits über 300 Menschen, darunter viele Zivilist:innen getötet worden.

Offensive der HTS-Miliz

Seit Mittwoch hat die Miliz dutzende Dörfer und Kleinstädte unter ihre Kontrolle gebracht und ist schnell auf die Millionenmetropole Aleppo vorgerückt. Auch die Region Şehba, nördlich von Aleppo, in der seit der türkischen Offensive auf Afrin 2018 über 150.000 Geflüchtete leben, ist betroffen. Die syrische Armee musste sich schnell zurückziehen und für eine angekündigte Gegenoffensive neu formieren.

Am Freitag erreichte die HTS-Miliz die Außenbezirke von Aleppo und konnte bis Sonntag große Teile Aleppos einnehmen. Der Gouverneur Aleppos und die Sicherheitskräfte hatten sich zurückgezogen.

Die russische Armee reagierte mit Luftangriffen auf die Offensive der vorrückenden HTS-Miliz in Idlib, Aleppo und umliegende Orte. Russland ist ein langjähriger Verbündeter des Assad-Regimes und verfügt über Militärstützpunkte in Syrien.

Der Sprecher der kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF), Farhad Shamî, hat in einer Meldung bekannt gemacht, man werde die syrische Bevölkerung nicht alleine lassen und vor der HTS-Miliz schützen. Die Truppen der SDF sind ihrerseits von Rojava aus auf Aleppo vorgerückt.

Im Internet kursierende Berichte über Kämpfe in der syrischen Hauptstadt Damaskus mit potenziellen Schläferzellen der HTS wurden noch nicht bestätigt.

Wer ist die Haiat Tahrir al-Scham-Miliz?

Die sunnitisch-salafistische Haiat Tahrir al-Scham-Miliz hat ihren Ursprung in der Jabhat al-Nusra-Miliz. Diese wurde 2012 als syrischer Ableger des Islamischen Staats im Irak (ISI) durch des djihadistische Terrornetzwerk al-Qaeda (auch Al-Qaida oder al-Kaida) gegründet.

Während die Jabhat al-Nusra in den syrischen Regionen Raqqa und Deir ez-Zor ihre Aktivitäten begannen und kämpften, wurden sie im Herbst 2013 und 2014 vom Islamischen Staat (IS) im Irak in Richtung Westen abgedrängt. Es war zu Widersprüchen zwischen den Führungen beider Organisationen gekommen. Letztendlich existierten beide Organisationen in Syrien nebeneinander, während sie hin und wieder über Territorien in Konflikt gerieten.

Im Sommer 2016 vollzog Jabhat al-Nusra dann den organisatorischen Bruch mit al-Qaeda, gründete sich unter Einbeziehungen kleinerer Gruppen als Jabhat Fatah al-Sham (JFS) neu und benannte sich wenige Monate später in Haiat Tahrir al-Scham (HTS) um. In den Jahren zuvor und auch später wurde ihr Gründer Abu Muhammad al-Jawlani immer wieder von treuen Kräften der al-Qaeda kritisiert. Er habe die ideologischen und politischen Grundsätze von al-Qaeda verraten, um eigene politische Interessen zu verfolgen. Auch die Nähe zur Türkei wurde kritisiert.

2017 konnte die HTS-Miliz beginnen, eine staatliche Verwaltung in und um die Stadt Idlib aufzubauen. Handel führte sie mit der Türkei, wodurch sie sich finanzieren konnte. Die HTS-Miliz und al-Jawlani arbeiteten systematisch daran, eine gemäßigte Fassade für ihre Regime aufzubauen und sich von Methoden der al-Qaeda wie z.B. internationalen Terroranschlägen abzugrenzen.

Trotz ihres Scheins als „gemäßigte“ Djihadisten wurden unter ihrem Regime systematisch Folter, Exekutionen, geheime Gefängnisse und andere Unterdrückungsmaßnahmen gegen religiöse Minderheiten, Dissidenten, Frauen und Oppositionelle angewandt.

Mit der Tolerierung durch den türkischen Staat konnten sie ihre Gebiete in Nordsyrien erweitern. Zu Ungunsten der Syrian National Army (SNA) – eines Bündnisses von islamistischen Milizen, das von der Türkei unterstützt wird und aus dem syrischen Bürgerkrieg hervorgegangen ist.

Den Moment genutzt

In den letzten Wochen hatte die syrische Armee nach Angaben der HTS-Miliz vermehrt Luftangriffe auf Idlib und andere von der HTS-Miliz kontrollierte Dörfer geflogen, wobei auch Zivilist:innen getötet wurden. Die Offensive der HTS wurde „Abschreckung der Aggressionen“ genannt und soll auch als Präventivschlag auf die Konzentration syrischer Truppen in der Nähe gelten.

Gleichzeitig erfolgt dieser Angriff in einem Moment, in dem das Assad-Regime besonders verletzlich ist. Wichtige Verbündete wie zum Beispiel Russland und die libanesische Hisbollah sind derzeit in den Kriegen in der Ukraine und im Libanon gebunden.

Russland hatte seit Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 immer mehr Soldaten abgezogen und drosselte somit seine Präsenz in der Region. Die Hisbollah war von Israel in einer Bodenoffensive auf den Südlibanon ab dem 30. September geschwächt worden. Trotz einer vereinbarten Waffenruhe zwischen Hisbollah und Israel am Dienstagabend, 26.11., erfolgen täglich weiter Angriffe auf den Libanon.

In den Wochen vor der Offensive von HTS waren auch Stellungen der Hisbollah, der syrischen Armee und Stellungen der Iranischen Revolutionsgarden (IRGC) in Syrien wiederholtes Ziel von israelischen Luftschlägen und kleinen Bodenoperationen. Die Verbündeten des Assad-Regimes wurden also auch von Israel aufgeweicht.

Hinzu kommt, dass die wirtschaftliche Situation von Syrien wohl so schlecht ist wie seit 2011 nicht mehr. Das Assad-Regime unterliegt westlichen Sanktionen. Auch wichtige Ölfelder in Nordsyrien sind von den USA besetzt.

Der Zeitpunkt einer Offensive für HTS war unter dem Strich scheinbar günstig und hat das Assad-Regime in einem Moment der Schwäche getroffen. Die Situation bleibt dynamisch und verändert sich stündlich.

Am heutigen Sonntag schließlich hat die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (Rojava) in Reaktion auf das Vorrücken von HTS und der mit ihr verbündeten SNA die Generalmobilmachung verkündet.

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