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Zeitung für Solidarität und Widerstand

„Historische Fehler“ in Syrien nicht wiederholen – Ein Interview mit der kurdischen Frauenorganisation Kongra Star

Im Interview berichtet Siliva el-Mouso, Sprecherin des Dachverbands der kurdischen Frauenorganisationen Kongra Star in Rojava, über die aktuelle Situation in Syrien und Kurdistan.

Die Türkei und ihre Verbündeten treiben die Eskalation in Syrien voran. Während die syrische Armee mit russischer Unterstützung einen Vormarsch von Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) und der von Ankara gelenkten sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA) vor Hama stoppen konnte, droht eine weitere Offensive. Besonders im Fokus steht die kurdische Region Manbidsch, die von Dschihadisten bereits auf drei Seiten belagert wird.

MHP-Chef Devlet Bahçeli erklärte, die Einnahme von Scheba sei nur der Anfang gewesen: „Manbidsch ist als Nächstes dran.“  Derweil bekräftigt auch Präsident Erdoğan, keine Stärkung kurdischer Kräfte zu dulden. Die kurdische Selbstverwaltung warnt vor einem Massaker und kündigt Widerstand an. Tausende Zivilist:innen wurden bereits vertrieben und es sind bereits viele Todesopfer zu beklagen. Zeitgleich häufen sich Berichte über Gräueltaten der SNA.

Syrien: Aleppo und Rojava unter Beschuss – Proteste angekündigt

Wie erlebt ihr ganz aktuell die Situation vor Ort und welche Maßnahmen werden nun ergriffen, um die Bevölkerung der Region zu schützen bzw. eine humanitäre Krise einzudämmen?

Am 27. November haben koordinierte Angriffe der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und der syrischen SNA auf Dörfer der Region Aleppo begonnen. Innerhalb von 48 Stunden wurde die Region besetzt und fast die gesamte Stadt Aleppo eingenommen. Es erinnerte an die Übernahme von Mosul durch den Islamischen Staat 2014, die ebenso unvorhergesehen und ohne Widerstand verlaufen ist.

Über soziale Medien erreichten uns aus Aleppo Bilder von Leichen auf den Straßen. Nachrichten von Enthauptungen und Vergewaltigungen verbreiteten Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Bereits am 29. November erreichten tausende Geflüchteten aus Aleppo die Städte Reqqa, Tebqa und Manbidsch in der selbstverwalteten Region Nord- und Ostsyrien.

Was anfangs wie ein Schlag gegen die Regierung von Bashar al-Assad und die in Aleppo stationierten vom Iran unterstützen Milizen aussah, entwickelte sich schnell zu einem konkreten Angriff auf das Projekt der Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien. Die von kurdischer und christlicher Bevölkerung bewohnten und selbstorganisierten Stadtviertel Sheikh Maqsood und Ashrafiyeh sind mittlerweile belagert. Die Kleinstadt Tel Rifat wurde mit mehr als 15.000 Kämpfern der HTS und SNA eingenommen. Straßen sind blockiert und viele Regionen und Dörfer sind abgeschnitten.

Im Gebiet Shehba im Norden von Aleppo lebten in den letzten fünf Jahren über 200.000 Menschen, die 2019 mit der Besatzung der Türkei aus Afrin geflüchtet sind, in Camps und provisorischen Unterkünften. Sie hatten sich dort angegliedert an die Selbstverwaltung selbstbestimmt organisiert, in der Hoffnung, irgendwann in ihre Heimat, ihre Dörfer und die Stadt Afrin zurückkehren zu können.

Auf Grund der massiven Angriffe und um die Bevölkerung vor Massakern zu schützen, wurde entschieden, die Menschen aus Shehba zu evakuieren. Hunderttausende sind nun zum zweiten Mal auf der Flucht. Viele sind mittlerweile in Tebqa angekommen, viele Dörfer in der Region sind aber immer noch abgeschnitten und die Situation der Bevölkerung dort ist ungewiss.

Wir hören davon, dass Telefone abgenommen wurden, damit Familien nicht berichten können, was dort passiert. Das militärische Bündnis der demokratischen Kräfte Syriens, die Syrien Defense Forces (SDF) und die kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ sind vor Ort. Sie verteidigen die Bevölkerung und schützen Fluchtkorridore in sicherere Regionen. Es gibt viele Verletzte, Gefangene und Tote.

Darüber hinaus hat die Selbstverwaltung die Mobilmachung ausgerufen. D.h. die gesamte Bevölkerung ist angehalten, sich auf die Verteidigung der Region vorzubereiten.

Zugleich sind alle auf den Beinen, um die ankommenden geflüchteten Familien zu unterstützen. Selbstorganisiert werden Sach- und Geldspenden gesammelt. Und viele fahren in Richtung Reqqa und Tebqa, um bei den Vorbereitungen und der Versorgung der Geflüchteten zu helfen. Es braucht Lebensmittel, Zelte, Decken und medizinische Versorgung.

Neben der Notwendigkeit, die daraus entstandene humanitäre Krise zu bewältigen, ist es auch wichtig zu schauen, wie dieser Angriff gegen das aktuell einzige demokratische alternative Gesellschaftsprojekt im Mittleren Osten auch auf der politischen Ebene verteidigt werden kann.

Deshalb rufen wir nicht nur auf, materielle Unterstützung der Geflüchteten zu leisten, sondern vor allem ideell solidarisch zu sein mit dem Projekt der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Die Angriffe in Aleppo, Shehba, Tel Rifat, Til Temir, Manbidsch etc. sind Angriffe auf die Idee der demokratischen Nation und die Befreiung der Frauen. Sie sind Angriffe auf die Hoffnung auf Lösung und Frieden für eine Region, die seit Jahrzehnten von einem Krieg der hegemonialen Mächte um Macht und Ressourcen geprägt und durch eingesetzte islamistische Banden terrorisiert wird.

Eskalation in Syrien: Kurdische Kräfte verkünden Generalmobilmachung

Die Massenmedien in Europa verklären und verharmlosen den Vormarsch der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) momentan und rücken sie in ein Licht von Rebellen, verharmlosen zum Teil ihren dschihadistisch-islamistischen Ansatz. Wie ist eure Meinung dazu? Was ist die HTS eurer Ansicht nach?

Es ist wichtig, die Situation gut zu bewerten und gut zu verstehen, wer genau HTS sind. Hayat Tahrir el-Sham, manchmal auch kurz Tahrir Al-Sham genannt, sind eine dschihadistisch-salafistische Gruppe mit Ursprung in den Anfängen des syrischen Bürgerkrieges. Wir können sie auch als eine Nachfolgeorganisation von Al-Qaida in Syrien bezeichnen.

Entstanden ist die HTS 2017 aus dem Zusammenschluss verschiedener Gruppen, darunter Jabhat Fatah al-Sham, vormals Jabhat el-Nusra, Ansar al-Din, Jaysh el-Sunna, Liwa al-Haqq und Nour al-Din al-Zenki. All diese sind islamistische Banden, die im Namen des Dschihad und mit denselben Methoden wie der Islamische Staat, z.B. durch Plünderungen, Vergewaltigung und Enthauptungen, ihre Schreckensherrschaft in der Bevölkerung verbreiten.

Viele ehemalige Kämpfer des Islamischen Staates sind heute Teil des HTS. Auch wenn sich ihre Selbstdarstellung gegenüber dem Islamischen Staat und Al-Qaida abgrenzt, haben die HTS in beiden Gruppierungen ihre Wurzeln. Das gemäßigte Bild in der Öffentlichkeit nutzen sie gezielt, um sich internationale Unterstützung zu sichern. Im Gegensatz zum IS verbieten sie das Filmen ihrer Verbrechen, trotzdem kommen immer wieder welche an die Öffentlichkeit.

Entsprechend öffentlicher Reden ihrer Anführer wollen sie das syrische Regime von Bashar al-Assad stürzen und einen Islamischen Staat in ganz Syrien errichten. Vor allem seit 2022 hat die HTS eine wichtige Rolle in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden Syriens übernommen. Sie wird logistisch, mit Waffen und Ausbildung vor allem durch die Türkei unterstützt.

Wie ist momentan eure Zukunftsprognose und wie werden sich vermutlich internationale Akteure in das Geschehen einmischen?

Internationale Akteure sind von Anfang an Teil der aktuellen Geschehnisse. Der Angriff auf die Region Aleppo und die Einnahme der Stadt mit mehr als 20.000 Kämpfern ist nichts, was eine Gruppe allein mit sich selbst – auch im Kontext eines internationalen Embargos – vorbereiten und organisieren kann. Dies braucht eine langfristige Planung und eine umfangreiche Logistik, Waffen, Geld und so weiter.

Verschiedenste internationale Kräfte spielen darin eine Rolle, alle mit unterschiedlichen Interessen. Keine Seite darin kämpft für die Interessen der syrischen Bevölkerung, sondern vor allem für den eigenen Vorteil. Wir befinden uns in einem Aufteilungskrieg. Die vor hundert Jahren im ersten Weltkrieg im Mittleren Osten gezogenen Grenzen werden neu verhandelt. Beteiligt daran sind die USA, Israel, weitere NATO-Staaten wie Deutschland, ebenso wie Russland, der Iran und vor allem die Türkei.  Statt ein vielfältiges demokratisches Syrien aufzubauen (Ziel des Demokratischen Rates Syriens (MSD)), wird der HTS den voranschreitenden Zerfall des Landes verstärken.

Die Türkei verfolgt dabei vor allem ihr Interesse, die von Kurd:innen bewohnten Regionen im Norden Syriens zu annektieren. Die bereits besetzten Gebiete in Efrin, Serekaniye und Gire Spi sollen verbunden und die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien zerstört werden. Auch deshalb finden gleichzeitig zu den Angriffen in Aleppo verstärkt Angriffe auf Manbidsch und Til Temir statt, mit dem Ziel, die verschiedenen Kantone, Handels- und Versorgungswege von Nord- und Ostsyrien voneinander abzuschneiden. Die genozidale Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung wird in Syrien u.a. mit Hilfe der HTS umgesetzt. Diese greifen gezielt die kurdische Bevölkerung, aber ebenso die anderen Minderheiten der Region wie Christen, Drusen oder Schiiten an und zerstören die kulturelle Vielfalt der Region.

Es ist ein historischer Fehler, Kräfte wie die HTS als Rebellen zu verharmlosen. Denn sie sind ebenso wie der Islamische Staat eine Gefahr nicht nur für die Region, sondern für die ganze Menschheit. Die schon aus Afghanistan bekannte Strategie regionale islamistische Gruppen für die Durchsetzung der eigenen Interessen zu nutzen, wird ebenso wie dort dazu beitragen, die zivilgesellschaftlichen demokratischen Kräfte, die ihr Land stärken und gestalten könnten, vollständig zu zerstören. Wir sehen hier viele Parallelen – so zum Beispiel auch in dem schweren Angriff auf Frauen, der sich gezielt gegen die Errungenschaften der Frauenrevolution, wie z.B. die Autonome Organisierung und Selbstverteidigung der Frauen in Nord- und Ostsyrien, richtet.

Wir können nur darauf hoffen, dass internationale Kräfte nicht denselben Fehler begehen und durch ihren Abzug z.B. der Internationalen Koalition gegen den IS das Land der Vormachtstellung dieser Gruppen und der Türkei überlassen. Wir werden jedenfalls alles dafür tun, die Bevölkerung und die Idee der demokratischen Selbstverwaltung zu verteidigen.

USA bauen weiteren Stützpunkt in Syrien auf

Die Türkei geht ja seit Monaten wieder mit massiven Repressionen gegen kurdische Politiker:innen auf türkischem Staatsgebiet vor und weitet ihren Zwangsverwalterapparat (Kayyum) immer weiter aus. Könnt ihr sagen, wie ihr die Stellung, den Zusammenhang und den Einfluss des türkischen AKP-Regimes bei all diesen Ereignissen einordnet?

Seit vielen Jahren ist die kurdische Bevölkerung in der Türkei mit einem staatlich legitimierten physischen, kulturellen und politischen Genozid konfrontiert, der viel Schmerz und Leid in der Gesellschaft verursacht hat. Derzeit werden in Nord-Kurdistan weiterhin täglich Aktivist:innen und Parlamentarier:innen in Gewahrsam genommen und demokratische gewählte Vertreter:innen in den Stadtverwaltungen werden durch Zwangsverwalter ersetzt. Die kurdische Sprache, Musik und Tänze werden verboten.

Die Türkei richtet sich mit demselben Anliegen auch gegen Kurd:innen in anderen Regionen. Sie greift in Rojava und Nord- und Ostsyrien gezielt das Projekt der demokratischen Nation und die Errungenschaften der Frauenrevolution an. Sie will den Willen der kurdischen Bevölkerung und der kurdischen Frauen zerstören. Durch die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung einerseits und den Einsatz von Söldnertruppen und die Ansiedlung ihrer Familien andererseits wird ebenso eine demografische Veränderung der Region forciert.

Nordkurdistan: Türkische Zwangsverwaltung statt Demokratie

Was brauchen die kurdischen Verteidigungseinheiten jetzt am meisten von internationalen Unterstützern? Was erwartet ihr konkret von der EU?

Wie bereits benannt, braucht es zuallererst dringend humanitäre Unterstützung für die Versorgung der Geflüchteten. Andererseits ist es wichtig deutlich zu machen, dass die HTS und SNA keine Alternative zum Regime von Bashar al-Assad sein können und ihre Stärkung zugleich ein Wiederaufleben des Islamischen Staates und seiner Ideologie bedeuten wird.

Die internationalen Kräfte und Europa dürfen nicht vergessen, dass es die demokratischen Kräfte Syriens (SDF) und die kurdischen Kämpfer und Kämpferinnen der YPG/YPJ waren, die in großen Opfern für die Befreiung der Region und der Menschheit vom Islamischen Staat gekämpft haben.

Sie verteidigen heute die Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien allein gegen die durch die Türkei unterstützten, islamistischen Banden der HTS und SNA.

Es braucht deshalb auch politische Solidarität mit den demokratischen Kräften und der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien und eine klare, deutliche Haltung gegenüber den dschihadistisch-islamistischen Kräften und ihren Verbrechen ebenso wie gegenüber der Besatzungspolitik des NATO-Staates Türkei.

Von Rojava bis zum Roten Meer – Frieden nur durch Sozialismus!

 

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