`

Zeitung für Solidarität und Widerstand

Machtübernahme in Syrien: NATO weitet Einfluss aus

Nach der Machtübernahme in Syrien spitzt sich der Kampf verschiedener imperialistischer Akteure um ihren Einfluss zu. Deutsche Politiker:innen wollen mit der HTS und SNA im aktuellen Machtpoker in Syrien kooperieren. Kurdische Organisationen sehen bei alldem die autonome Region Rojava bedroht und rufen zur internationalen Unterstützung auf.

Nach insgesamt dreizehn Jahren Bürgerkrieg stürzte vor einer Woche das syrische Regime mit der unerwarteten Flucht des Präsidenten Assad. Verursacht hat dies vor allem die militärische Offensive der fundamentalistischen Miliz Hayat Tahrir al Sham (HTS, Komitee zur Befreiung der Levante) und der Djihadisten der mit der Türkei verbündeten „Syrischen Nationalarmee“ (SNA).

Auf den HTS-Anführer Ahmed al-Scharaa – auch bekannt unter seinem Kampfnamen als Abu Mohammed al-Dschulani der damaligen djihadistischen Al-Nusra-Front – setzte das US-amerikanische FBI vor sieben Jahren noch ein Kopfgeld von bis zu zehn Millionen Dollar („tot oder lebendig“) aus. Heute geht er scheinbar auf Distanz zu dem Regierungschef der neuen syrischen Übergangsregierung Mohammad al-Baschir, was einen gemäßigteren Umgang mit den Beamten und Kollaborateuren des alten syrischen Regimes der Baath-Partei anbelangt.

Syrien: Assad gestürzt, Regionalmächte verhandeln, SDF rufen Ausnahmezustand aus

NATO und Verbündete mischen mit

Europäische Spitzenpolitiker:innen wie Bundeskanzler Scholz (SPD) und Frankreichs Präsident Macron werden seitdem nicht müde, davon zu reden, dass die internationale Staatengemeinschaft bereit sein müsse, mit den „neuen Machthabern“ zusammenzuarbeiten, um „die Menschenrechte sowie die Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten in Syrien“ zu schützen.

Dabei stützt sich deren Politik maßgeblich auf die imperialistischen Besatzungsarmeen und deren Massaker in der Region des Nahen Ostens: Der NATO-Partner Türkei bombardiert die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Rojava und bekämpft die demokratischen SDF-Kräfte mit Hilfe der SNA in Nordsyrien. Die USA haben rund 900 Soldaten um die Ölfelder im Nordosten des Landes stationiert und Israel hält seit 1967 die syrischen Golanhöhen besetzt.

Zudem hat Israel seit Beginn der HTS-Offensive mehr als 480 Luftangriffe auf syrisches Territorium geflogen. Israels Ministerpräsident Netanjahu meint dazu: „Wir verändern das Aussehen des Nahen Ostens.“ Und weiter zur Annektion syrischer Gebiete: „Die Bedeutung dieser historischen Anerkennung wurde heute hervorgehoben. Die Golanhöhen werden für immer ein untrennbarer Teil des Staates Israel sein.“

Situation in Syrien unter HTS

Dabei genügt ein Blick auf die Vorkommnisse in der syrischen Provinz Idlib, in der die Djihadistenorganisation HTS maßgeblich den Protest gegen das von vielen Syrer:innen verhasste Assad-Regime angeführt hat, und der gestiegene Einfluss von Erdogans Türkei, um sehen zu können, wohin die Reise nun in ganz Syrien gehen kann: In Idlib haben nur eigens ausgesuchte Männer Wahlrecht, Frauen eben nicht. Auch Christ:innen haben nur beschränkte Rechte. Alawiten und Drusen gelten als vom Islam abgefallen und werden verfolgt. Faktisch hat dort die Scharia seit langem Gesetzeskraft.

Kritische Äußerungen über HTS sind in der Provinz Idlib unerwünscht. Der UN-Menschenrechtsrat jedoch erwähnt in einem Bericht, dass dort mindestens 64 oppositionelle Aktivist:innen oder Journalist:innen „verschwunden“ seien. Und ein Rechtsanwalt aus Idlib erzählt: „Todesurteile werden in Geheimgefängnissen ohne Gerichtsurteil vollstreckt“.

Einwohner:innen, welche die Ideologie der HTS (den islamischen Djihad, das islamische „Märtyrertum“ und einen Verzicht auf Terroranschläge in westlichen Staaten) nicht teilen, werden regelmäßig verprügelt, gefoltert, in enge Kisten („Särge“) gesteckt oder tagelang an ihren Gliedmaßen aufgehängt. Sexuelle Misshandlungen und systematische Vergewaltigungen von Frauen in HTS-Gefängnissen sind bekannt und dokumentiert.

In seinem Bericht für das Washingtoner Institut für Nahoststudien über die Ideologie und Politik der HTS-Miliz wirft Araon Y. Zelin trocken die bilanzierende Frage auf „ob die USA darüber hinwegsehen sollten, wie sie es mit ihren Verbündeten in der Region tun.“

CENI sieht Bedrohung für Rojava

Das Kurdische Frauenbüro für Frieden (CENI) sieht eine große Erleichterung bei vielen Menschen in Syrien durch den Sturz von Assad. Gleichzeitig warnt es vor der Bedrohung Syriens durch türkische Angriffe. Die Türkei und die von ihr unterstützte Miliz SNA greifen gezielt die Selbstverwaltung in Rojava an. Dabei kam es zu Drohnenangriffen, die am 8. Dezember ein christliches Dorf nahe Til Temir und am 9. Dezember ein Dorf bei Ain Issa trafen, wobei mehrere Menschen, darunter Kinder, getötet wurden. Zur Gefahr durch die HTS erklärt CENI:

„Inwiefern beziehungsweise wie lange die HTS die Selbstverwaltung in Rojava tolerieren wird, deren politischen Werte und Interessen den ihren komplett entgegensteht, und ob sie sich auf einen Dialog mit den Vertreter:innen der Selbstverwaltung einlassen oder sie in Kooperation mit der Türkei bekämpfen wird, bleibt derzeit abzuwarten. Fest steht, dass der Norden Syriens als Region strategisch wie wirtschaftlich wichtig ist und gleich mehrere Akteure ein Interesse daran haben, die Selbstverwaltung zu bekämpfen. Besonders die Türkei und ihr nahestehende dschihadistische Milizen verfolgen mit aller Härte ihr Ziel, die Frauenrevolution in Rojava anzugreifen und breite Flächen Syriens unter ihre Kontrolle zu bringen, zu türkisieren und zu islamisieren.“

Um ihre Bereitschaft für eine friedliche Einigung mit der HTS zu signalisieren, erklärten die kurdisch geführten Syrian Democratic Forces (SDF) ihre Anerkennung für die neue grün-weiß-schwarze Flagge mit drei roten Sternen. Mit der SNA wurde zudem versucht, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Am Sonntag Nachmittag erklärten die YPG jedoch, dass dieses Abkommen mit der Türkei und SNA gescheitert sei. Stattdessen zogen die türkische Armee und die SNA Soldaten Kräfte an der Grenze zu Kobanê und rund um die Qere-Qozaq-Brücke zusammen.

Die YPG ruft daher „alle demokratischen Kräfte dazu auf, sich hinter die Menschen der AANES zu stellen und Kobane sowie Rojava zu verteidigen.“

Offensive auf Nord- und Ostsyrien: Rojava-Revolution verteidigen!

Diplomatische Unterstützung und Waffenlieferungen an die Türkei

Der deutsche Kriegsminister Boris Pistorius (SPD) teilt bei seinem Besuch der Bundeswehrtruppen in Jordanien (auf dem deutschen Luftwaffenstützpunkt Al Azraq) und im Irak (in Bagdad und Erbil) mit, dass das militärische deutsche Engagement dort mit Blick auf die Lage im Nachbarland Syrien unbedingt ausgeweitet werden müsse. Denn damit müsse man der HTS, der SNA und deren Verbündeten eine „Chance geben, das zu tun, worauf es jetzt ankommt“. Der Kriegsminister verlangt: „Wir als Europäer, als Deutschland“ müssten „Beiträge leisten“ zur Regelung der Verhältnisse in Syrien.

Wie sich die deutsche Außenpolitik diese Einmischung in die Angelegenheiten der Völker Syriens vorstellt, macht Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in ihrem Plan für den „Friedensprozess in Syrien“ klar: Syrien brauche „eine friedliche und geordnete Machtübergabe [] an eine zivile Regierung mit breiter Legitimität“. Die islamistischen HTS- und SNA-Milizen seien in „eine nationale Armee“ sowie in „freie und demokratische Wahlen“ zu integrieren.

Zu gründen sei „eine neue Gruppe der Freunde Syriens“, zu der neben den Nachbarstaaten und anderen arabischen Ländern auch „westliche Geberländer“ gehören sollten. Die Milizen seien „de facto die neue starke Macht in Syrien“, mit der im Rahmen eines „pragmatischen Ansatzes“ auch zusammengearbeitet werden solle.

Neben dieser diplomatischen Unterstützung stützen die NATO und Deutschland diese Kräfte auch mit Hilfe der Türkei. Erst kürzlich genehmigte Deutschland die Lieferung von 40 Eurofightern an die Türkei, nachdem dies die vergangenen Jahre noch blockiert wurde. Außerdem befinden sich die Waffenlieferungen in diesem Jahr mit 230 Millionen Euro auf einem Höchststand seit 2006. Panzer-Kanzler Scholz sieht die Waffenlieferungen als „selbstverständlich“ an.

„Das ist ja selbstverständlich”: Deutsche Waffenlieferungen in die Türkei

Vertreibung, Kämpfe, Abschiebungen – wie geht es weiter?

Und die parlamentarische „Opposition“ der Unionsparteien sowie einige CDU-Landesinnenminster werden in dieser Situation nicht müde, die möglichst schnelle Abschiebung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien zu fordern. Denn derzeit leben etwa eine Million Menschen mit syrischem Pass in Deutschland.

Doch nach dem Sturz Assads und dem Durchmarsch der islamistischen Milizen steigen die Gefahren für das Leben der Syrer:innen massiv an – durch Menschenrechtsverletzungen, Bürgerkrieg und die permanente Anwesenheit ausländischer Mächte.

Trotz alledem konnten die militärischen, politischen und wirtschaftlichen Angriffe auf die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien die Revolution in Rojava mit ihren autonomen Frauenstrukturen und der Selbstorganisation der ethnischen und religiösen Minderheiten bisher nicht besiegen. Ihr Modell könnte ganz Syrien inspirieren und zeigen, wie der Kampf um Frieden, Demokratie und Gleichheit konkret organisiert werden kann.

Perspektive Online
Perspektive Onlinehttp://www.perspektive-online.net
Hier berichtet die Perspektive-Redaktion aktuell und unabhängig

Mehr lesen

Perspektive Online
direkt auf dein Handy!