Die Weihnachtszeit führt uns besonders vor Augen, dass in unserer Gesellschaft mehr und mehr Menschen vereinsamen. Doch eine Gesellschaft, die auf Kollektivität und Solidarität aufgebaut ist, gibt es nicht nur in Märchen, sondern kann von uns im Sozialismus errungen werden. – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.
In der bekannten Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens entscheidet sich der geizige und kaltherzige Kapitalist Ebenezer Scrooge, das Weihnachtsfest alleine zu verbringen – das Fest sei schließlich der reinste „Humbug”. Eine Einladung seines Neffen lehnt Scrooge ab: „Was für ein Recht hast du, glücklich zu sein? Du bist arm genug.” Für die Arbeiter:innen, die im Kreise ihrer Familien das Weihnachtsfest begehen, hat der Geizhals nichts übrig. Erst der wundersame Besuch von drei Geistern führt Scrooge vor Augen, dass er nicht länger alleine sein will. Zum Ende des Weihnachtsmärchens feiern der Kapitalist und seine Arbeiter:innen zusammen ein besinnliches Fest.
Auch in der Realität gibt es jedes Jahr zahlreiche Menschen, welche die Weihnachtszeit und das Familienfest der Liebe alleine verbringen müssen. Laut einer repräsentativen Umfrage sind dies rund 3 Prozent der in Deutschland lebenden Personen – das entspricht 2,5 Millionen Menschen. In den seltensten Fällen erleben diese dann besinnliche und romantische Weihnachtsgeschichten wie der reiche Scrooge bei Charles Dickens.
Einsamkeit ist weit verbreitet
Obwohl gerade um Weihnachten das ungewollte Alleinsein immer wieder zum Thema wird, zeigen Statistiken längst, dass Einsamkeit und Isolation in der gesamten Gesellschaft und das ganze Jahr über existieren. Jede sechste Person in Deutschland, so zeigen Daten der großen Langzeitstudie Sozioökonomisches Panel, fühlte sich im Jahr 2022 einsam. Einsamkeit ist dabei nicht etwa gleichzusetzen mit Alleinsein. Einsam fühlen sich Menschen dann, wenn sie andere Vorstellungen von ihren sozialen Beziehungen haben, als diese sich tatsächlich in der Realität gestalten.
Bemerkenswert dabei: Wurde bis vor einigen Jahren Einsamkeit noch als ein Phänomen vor allem unter Älteren verstanden, so zeigen Untersuchungen heute deutlich, dass überdurchschnittlich viele Jugendliche sich einsam fühlen. Die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben daran einen wesentlichen Anteil: besonders betroffen von den psychischen Belastungen in Folge von Schulschließungen waren vor allem Kinder aus Familien mit niedrigem und unsicherem Einkommen sowie solche aus migrantischen Familien.
Die durch die Maßnahmen ab 2020 stark gestiegene Einsamkeitsbelastung junger Menschen hat auch heute noch, trotz einer gewissen Verringerung seit dem Ende der Pandemie, weiterhin Bestand: Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung fragte im Frühjahr 2024 junge Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren, ob sie sich stark einsam, moderat einsam oder nicht einsam fühlten. 10 Prozent der Befragten gaben an, sich stark einsam zu empfinden, weitere 36 Prozent fühlten sich moderat einsam.
Als eine weitere Erklärung hierfür deuten aktuelle Forschungsergebnisse unter anderem darauf hin, dass die gesteigerte Nutzung von sozialen Medien und das damit einhergehende ständige Sich-Selbst-Vergleichen mit Anderen das Risiko von Einsamkeitsempfindungen erhöht.
Auch alle diejenigen, die intensive Formen der Sorgearbeit – zum Beispiel das Pflegen von Angehörigen oder das Erziehen von Kindern als Alleinerziehende – leisten, sind laut internationalen Forschungen in besonderem Maße von Einsamkeit bedroht. In der heutigen Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise eng mit patriarchaler Ausbeutung und Unterdrückung verknüpft ist, sind es vor allem Frauen, die diese Formen der unbezahlten Sorgearbeit, oft zusätzlich zu Lohnarbeit, leisten müssen und somit schlicht zu wenig Zeit für das Pflegen von sozialen Kontakten und Beziehungen haben.
Gemeinschaft jenseits des Kapitalismus
In der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens ist es der Kapitalist Ebenezer Scrooge selbst, der sich mit einer Gehaltserhöhung für seine Angestellten, Spenden für die Armen und einem Besuch bei seiner Familie aus der Vereinsamung freikauft. In der Realität sind es jedoch, anders als im Märchen, gerade die im Kapitalismus besonders unterdrückten Menschen, die vereinsamen. Für sie besteht die Möglichkeit nicht, sich mit finanziellen Extra-Ausgaben aus der Einsamkeit zu lösen.
Tatsächlich trägt die kapitalistische Produktionsweise ursächlich zu einem nicht unwesentlichen Teil zur Vereinsamung bei. Das liegt nicht nur an dem zum Teil unermesslich überhöhten Individualismus, der im Kapitalismus immer wieder gepredigt wird, oder an der Ellenbogen-Mentalität, mittels derer schon Kinder und Jugendliche beginnen, sich in Konkurrenz zu anderen zu betrachten. Der Umstand, dass im Kapitalismus der Mensch mit seiner Arbeitskraft selbst zur Ware wird, bedeutet schlussendlich auch, dass alle Menschen, die nicht unmittelbar für das Kapital verwertbar sind, weniger wert sind.
Aus diesem Grund kann es auch keine Alternative sein, einen „sozialeren Kapitalismus“ zu fordern, in dem diejenigen, die von der kapitalistischen Produktionsweise profitieren, von ihrem Reichtum viel oder teilweise abgeben, um ihn zum Wohle der ganzen Gesellschaft einzusetzen. Die Geschichte von mehreren Jahrhunderten Kapitalismus hat uns gezeigt, dass die Kapitalist:innen von sich aus ihren Reichtum nicht freiwillig aufgeben. Geschenke vom Kapital gibt es für die Arbeiter:innen bei Charles Dickens, nicht aber in der Wirklichkeit.
Erst wenn unsere Gesellschaft auf einer neuen kollektiven und solidarischen Grundlage von uns neu erschaffen wird, werden Phänomene wie die Vereinsamung der Vergangenheit angehören können. Diese Grundlage ist der Sozialismus – eine Gesellschaft, in der die Arbeiter:innen sich vereinen, sich selbst organisieren verwalten und regieren und die Vormacht der Kapitalist:innen gebrochen ist. Dann steht nicht mehr der Verkauf der eigenen Arbeitskraft an einige Wenige, sondern der Einsatz der Arbeitskraft zum Wohle der Gemeinschaft aller Menschen im Mittelpunkt.
Dadurch wird auch eine neue Form des Miteinanders entstehen. Aus der neuen ökonomischen Grundlage im Sozialismus, der Abschaffung des Konkurrenzprinzips durch die Kooperation, aber auch durch die Kürzung des Arbeitstags und ein Ende der sexistischen und rassistischen Arbeitsteilung wird eine neue Kultur der Solidarität und des Miteinanders erwachsen. Heute mag das für uns, die noch durch und durch vom Kapitalismus geprägt sind, wie ein Märchen klingen. Doch es liegt voll und ganz in unserer Hand, dass dieses Märchen Realität wird.
Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 93 vom Dezember 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.