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Südkoreanischer Präsident verhängt spontan Kriegsrecht: Parlament interveniert

Nachdem der rechtskonservative Präsident Yoon Suk-yeol abends das Kriegsrecht aufgrund eines Haushaltsstreits mit der Opposition ausgerufen hatte, schritt in der Nacht auf den heutigen Mittwoch die Nationalversammlung Südkoreas ein und hob das Dekret auf. Tausende Menschen demonstrierten noch bis spät in die Nacht auf den Straßen. – Ein Kommentar von Nick Svinets.

Wohl kaum konnte erwartet werden, dass der Haushaltsstreit zwischen Präsident Yoon und der im April neu gewählten Nationalversammlung auf diese Weise eskaliert: Am Abend des 3. Dezember rief das südkoreanische Staatsoberhaupt unerwartet das Kriegsrecht und damit den Ausnahmezustand aus. Letztmals war das 1980 unter der Militärdiktatur von Chun Doo-hwan geschehen – und ist tief im historischen Gedächtnis der Südkoreaner eingebrannt.

Am frühen Morgen des 4. Dezember knickte Yoon aufgrund des enormen Drucks ein und sagte zu, das Kriegsrecht wieder aufzuheben, was bedeutete, dass das regierungstreue Militär auch nicht weiter handeln würde. In der Nationalversammlung wird jetzt als Reaktion auf die massive Eskalation schnellstmöglich das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Yoon durchgeführt.

Vor dem Parlament in Seoul versammelten sich Tausende von Demonstrant:innen, die lautstark gegen die Aussetzung ihrer Grundrechte protestierten. Mit Slogans wie „Nieder mit der Diktatur“ und „Nein zum Kriegsrecht“ drängten sie auf die Aufhebung des Erlasses. Dabei war die Situation teils so angespannt, dass Parlamentsabgeordnete unter starker Polizeipräsenz ins Gebäude gelangen mussten – der Fraktionsführer der Demokratischen Partei kletterte sogar über einen Zaun, um seine Stimme abzugeben. Insgesamt konnten 190 von 300 Parlamentsmitglieder abstimmen. Alle 190, darunter auch Anhänger:innen der rechtskonservativen People Power Party (국민의힘 – PPP), stimmten ohne Ausnahme gegen den Erlass.

Massive Einschränkungen der Grundrechte als Folge

Die Proklamation des Kriegsrechts umfasste nach Yoon auch ein Verbot der Aktivitäten der Nationalversammlung, weshalb das Militär versucht hatte, die Parlamentarier:innen nicht ins Gebäude zu lassen.

Die genauen Bestimmungen des präsidialen Dekrets:

1. Alle politischen Aktivitäten, einschließlich der Aktivitäten der Nationalversammlung, lokaler Räte, politischer Parteien, politischer Vereinigungen, Kundgebungen und Demonstrationen, sind verboten.

2. Alle Handlungen, die das liberale demokratische System ablehnen oder versuchen, es zu stürzen, sind verboten. Falschnachrichten, Manipulation der öffentlichen Meinung und falsche Propaganda sind ebenfalls verboten.

3. Alle Medien und Veröffentlichungen unterliegen der Kontrolle des Kriegsrechtskommandos.

4. Streiks, Arbeitsniederlegungen und Kundgebungen, die soziale Unruhen anstiften, sind verboten.

5. Alle medizinischen Mitarbeiter, einschließlich Trainee-Ärzten, die im Streik sind oder den medizinischen Bereich verlassen haben, müssen innerhalb von 48 Stunden an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und treu arbeiten. Verstöße werden gemäß dem Kriegsrecht bestraft.

6. Unschuldige gewöhnliche Bürger, mit Ausnahme von anti-staatlichen Kräften und anderen subversiven Kräften, unterliegen Maßnahmen, um Unannehmlichkeiten im täglichen Leben zu minimieren.

Südkoreanische Arbeiter:innen setzen Samsung-Streik fort

Besonders der in letzter Zeit aufgestaute Unmut der südkoreanischen Arbeiter:innen über die herrschenden politischen Zustände hat sich – wenn auch viel geringer als bei Streiks auf den Straßen – im Parlament niedergeschlagen.

Haushaltsstreit und Amtsenthebungsanträge

Der Haushalt für das kommende Jahr wurde in Südkorea noch nicht verabschiedet. Die Demokratische Partei (더불어민주당 – DPK) habe die Beschlussfindung, so Yoon, aktiv boykottiert und damit die Regierung lahmgelegt. Nach den Parlamentswahlen im April stellt die DPK die größte Fraktion. Yoon Suk-yeols Auffassung zufolge erhöhe das parlamentarische Hin und Her die Gefahr, von Nordkorea angegriffen zu werden. Er wirft einigen Parlamentarier:innen auch eine Verschwörung mit dem einzigen Nachbarstaat vor.

„Um ein liberales Südkorea vor den Bedrohungen durch Nordkoreas kommunistische Truppen zu schützen und um anti-staatliche Elemente zu eliminieren (…), rufe ich hiermit das Kriegsrecht aus“, sagte Yoon. Er führte dabei unter anderem deren 20 Amtsenthebungsanträge an, die gegen von ihm ernannte Personen gerichtet waren, darunter der Verteidigungsminister und die Leitung der Rundfunkkontrollbehörde.

Wichtig hierbei anzumerken ist, wie tief verwurzelt antikommunistische Propaganda in Südkorea ist: Nicht nur durch die besonders starke Partnerschaft mit den USA infolge des Kriegs in Korea, sondern auch das stetig befeuerte Feindbild des „kommunistischen” Nordkoreas auf der anderen Seite der Grenze hat rechten und liberalen Politiker:innen die Möglichkeit gegeben, im Sinne des Kapitals aufzurüsten und den neoliberalen Staatsapparat auszubauen. Genau dieses Narrativ bespielt der heutige Präsident Yoon ebenfalls, um den von der PPP vorgeschlagenen Haushalt in seinem und im Interesse des Kapitals durchzuwinken.

Widerstand auf den Straßen und im Parlament

Die Proteste sind in größten Teilen friedlich verlaufen, es kam aber besonders vor dem Gebäude der Nationalversammlung zu Ausschreitungen, vor allem nachdem Präsident Yoon die Spezialkräfte des südkoreanischen Militärs in das Gebäude entsandt hatte. Im Gebäude hielten laut Berichten einige Parlamentsmitarbeitende die Spezialkräfte mit Feuerlöschern davon ab, die außerordentliche Sitzung des Parlaments zu unterbrechen oder gar zu beenden.

Besonders in Hinblick auf die Geschichte Südkoreas erinnert dieses – jetzt schon historische – Ereignis schnell an die Ausrufung des Kriegsrechts im Jahr 1979. Der Fakt, dass Tausende auf den Straßen protestieren, ist trotz der Erfahrungen von 1980 äußerst bedeutsam.

Der Gwangju-Aufstand von 1980 war ein bedeutender Protest in Südkorea gegen die Militärdiktatur von General Chun Doo-hwan, der nach einem von den USA und Japan unterstützten Putsch im Dezember 1979 an die Macht gekommen war. Der Aufstand begann am 18. Mai, als vor allem Studierende gewaltsam gegen die repressiven Maßnahmen der Diktatur protestierten. Das Militär schlug den Aufstand brutal nieder, wobei Hunderte von Toten und Verletzten zu verzeichnen waren.

Unklarheit über weitere Entwicklungen

Abzuwarten bleibt, wie das Militär weiter reagiert. Die Spezialkräfte haben laut internationalen Medien das Parlamentsgebäude verlassen. Laut Aussagen von Militäroffiziellen stehe man weiter hinter der Ausrufung des Kriegsrechts, doch mit der Revidierung durch den Präsidenten am frühen Morgen des 4. Dezember sind diese Aussagen obsolet. Die deutsche Botschaft in Seoul gibt Entwarnung und sieht keine Gefahr für in Südkorea lebende Deutsche. Wie es sich in den nächsten Tagen entwickelt, bleibt trotzdem vorerst abzuwarten.

Nick Svinets
Nick Svinets
Perspektive-Autor seit 2024 und Politikwissenschaftsstudent mit Fokus auf Westasien & Sahelzone, Migration, Antirassismus, Antimilitarismus und internationale Klassenkämpfe.

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