Die islamistisch-fundamentalistische HTS steht vor den Toren der strategisch entscheidenden Stadt Homs. Die Stadt Daraa, sowie große Teile der gleichnamigen Provinz wurden bereits eingenommen. Die Assad-Regierung scheint kurz vor dem Zusammenbruch. Derweil versucht die Türkei, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Nachdem Aleppo und Hama bereits eingenommen wurden, haben sich die Rebellenmilizen – ein islamistisches Bündnis verschiedener Milizen mit den HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham) an der Spitze – der Stadt Homs genähert, welche die drittgrößte Stadt Syriens ist. Das HTS hatte seine Offensive aus dem Norden des Landes gestartet und rückt nun immer weiter in den Süden vor, zu den von der Assad-Regierung kontrollierten Regionen. Dabei bewegen sich die Milizen mit großer Geschwindigkeit: die rund 100km Distanz zwischen Aleppo und Hama sollen sie sehr schnell bewältigt haben, sagen Militärexperten von Al Jazeera.
Syrien: Aleppo und Rojava unter Beschuss – Proteste angekündigt
Viele fliehen vor der HTS
Die Reaktionen der Bevölkerung auf die Rebellen sind gemischt: In Propaganda-Videos des HTS werden die Truppen mit Applaus begrüßt. Gleichzeitig gibt es große Flüchtlingsströme im Land, es wird von 150.000 Menschen auf der Flucht ausgegangen. Viele versuchen per Auto, aus Homs zu fliehen.
Die Geflüchteten bewegen teils in Richtung Damaskus und Küste, wo die Regierung noch die Kontrolle hat. Andere fliehen aber auch in kurdische Gebiete im Norden. Dort gibt es zwar improvisierte Flüchtlingslager, die Versorgungssituation sei Berichten zufolge aber kritisch.
Türkei nutzt Lage aus
Währenddessen beobachtet die Türkei die Situation aufmerksam: Von offizieller Seite heißt es, dass man keine weitere Eskalation des Kriegs wolle. Die Türkei unterstützt das Bündnis jedoch indirekt, in dem sie z.B. Hilfslieferungen an die HTS-Hochburg Idlib zulässt.
Der Türkei zufolge habe die syrische Regierung gegen das Abkommen, das Türkei, Iran und Russland ausgehandelt hatten, verstoßen, indem sie Rebellengebiete angegriffen hatte. Die Rebellenoffensive sei deshalb nur eine Reaktion darauf. Analyst:innen – darunter die Direktorin des türkischen Programms vom Nahostinstitut an der George-Washington-Universität, Gönül Tol – gehen davon aus, dass die Offensive nur durch ein Okay seitens der Türkei möglich gewesen sei.
Türkische Truppen haben derweil Teile Nordsyriens besetzt. Offiziell geht es dabei darum, Pufferzonen sowohl gegen IS-Truppen, als auch gegen kurdische YPG-Truppen zu schaffen. Asssad hatte den Abzug der türkischen Truppen gefordert. Die Türkei weigert sich bislang jedoch – mit Verweis auf eine angebliche Bedrohung durch die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG (Yekîneyên Parastina Gel).
Eskalation in Syrien: Kurdische Kräfte verkünden Generalmobilmachung
Laut Tol verfolge die Türkei verschiedene Ziele mit dem Vorstoß der HTS: Zum einen könnte die Türkei Assad zu mehr Zugeständnissen bewegen, da er sich nun unter Druck befindet. Außerdem könnte die Türkei dann ungehindert mehr Angriffe auf die kurdischen Gebiete ausüben. Hinzu kommt, dass sich sehr viele syrische Geflüchtete durch den Bürgerkrieg in der Türkei befinden. Durch eine Schwächung Assads würden viele davon womöglich nach Syrien zurückkehren.
Ob diese Ziele realisierbar wären, bleibe aber abzuwarten, meint Tol. Die HTS verfolge nämlich eigene Interessen und sei unberechenbar.
In Deutschland gab es die vergangene Woche viele Veranstaltungen, mit denen sich sowohl mit den syrischen Zivilist:innen, als auch dem kurdischen Befreiungskampf solidarisiert wurde. In mehreren Städten sind weitere Aktionen angekündigt.
HTS nimmt Daraa ein
Am späten Freitagabend verkündeten die syrischen Rebellen dann die Einnahme der südlichen Städte Daraa und Suweida. Diese Beobachtung bestätigte auch die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte: „Lokale Gruppierungen haben die Kontrolle über weitere Gebiete in der Provinz Daraa übernommen, einschließlich der Stadt Daraa“. Sie teilten ebenfalls mit, dass die Rebellen nun „mehr als 90 Prozent der Provinz kontrollieren, da sich die Regime-Kräfte sukzessive zurückgezogen“ haben. Inzwischen ziehen die Regierungstruppen vollständig aus den Provinzen Daraa und Suweida ab.
Bereits zuvor hatte die HTS verkündet, an den Stadtgtrenzen von Homs angelangt zu sein – nun steht eine Schlacht um die Miliionenstadt unmittelbar bevor. Bisweilen war unklar, ob es den Milizen an Truppenstärke oder militärischer Ausrüstung fehle, um die Metropole einzunehmen. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte bestätigte jedoch, dass sich Regierungstruppen aus der Stadt zurückgezogen hätten.
Eskalationspotential an mehreren Fronten
Währenddessen forderte die mit der Türkei verbündete Syrische Nationalarmee (SNA) die Bewohner:innen der Stadt Manbidsch in der Provinz Aleppo auf, sich von den Hauptquartieren der kurdischen Milizen zu entfernen. Manbidsch liegt im Norden des syrischen Staatsgebiets und ist Teil der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES), besser bekannt als Rojava. Somit bahnt sich zeitgleich ein Angriff auf kurdische Gebiete mit türkischer Unterstützung an.
Doch auch an anderen Stellen gibt es Potential für weitere Eskalationen des Konflikts: Auch Israel verstärkt die Präsenz der IDF (Israel Defense Forces) in den Golanhöhen. Das Gebiet, welches Israel im Sechstagekrieg 1967 eroberte und 1981 schließlich annektierte, liegt nur wenige Kilometer westlich von Daraa.
Hat Assad verloren?
Die Lage für den syrischen Machthaber Baschar al-Assad wirkt recht aussichtslos. Bisher zogen sich die Regierungstruppen hauptsächlich zurück, Gewinne konnten sie im aktuellen Konflikt noch keine erzielen. Sollte es dem HTS nun gelingen, Homs einzunehmen, wären die Regierungstruppen und die Hauptstadt Damaskus damit vollständig von der Mittelmeerküste sowie einem Marinestützpunkt und einer Luftwaffenbasis der russischen Verbündeten abgeschnitten. Auch Assads Familie soll bereits aus Syrien geflohen sein. Nun berichtet die syrische Staatsagentur Sana, dass die Regierungstruppen sich neu positionieren würden, nachdem „terroristische Elemente“ Kontrollpunkte der Armee angegriffen hätten.
Das Regime der Baath-Partei um Assad scheint zudem nur wenig Unterstützung zu bekommen. Zwar hat Russland einige Luftangriffe auf Rebellenmilizen geflogen, und aus dem Irak kommen pro-iranische Milizen Assad zu Hilfe – viel ist das aber nicht. Russland ist durch den Ukraine-Krieg stark eingebunden und der Iran durch den Konflikt mit Israel um den Libanon.
Der Iran soll nun auch begonnen haben, sein Personal aus Syrien abzuziehen – darunter auch militärische Kräfte. Laut einem Bericht der New York Times sind unter den Abgezogenen auch Generäle der syrischen Quds-Einheiten. In einem Interview mit dem iranischen Analysten und Berater Mehdi Rahmati sagte dieser, dass der Iran realisiert habe, dass er die Situation derzeit militärisch nicht kontrollieren könne. Bisher dementiert Teheran die Berichte vehement. Allerdings bezeichnete der iranische staatliche Sender IRIB die Milizen Freitagabend als „bewaffnete Widerstandsgruppen“ und nicht als „Terroristen“ – viele werten dies als erste Annäherung.
Am Samstag wollen sich nun der türkische, iranische und russische Außenminister in Doha/Katar treffen, um dort zu besprechen, wie man mit der Situation verfahren wolle. Am Freitagabend trafen sich bereits Vertreter aus dem Iran, Irak und Syrien in Bagdad/Irak.